Den Rechtsstaat versenkt

Zehn Jahre «Krieg gegen den Terror» zeigen Wirkung. Auch in der Schweiz vergisst man mehr und mehr, was den Rechtsstaat ausmacht. Eine Entwicklung, die selbst vor Bundesrätinnen nicht halt macht. So begrüsste Micheline Calmy-Rey die Ermordung Osama Bin Ladens als «gute Neuigkeit». Noch ungeschminkter offenbarte Doris Leuthard, was sie denkt: «Heute hat die Gerechtigkeit gesiegt». Gerechtigkeit?

In Deutschland gab es für eine ähnliche Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel böse Kommentare, sogar eine Anzeige wurde eingereicht. Hierzulande sind Reaktionen praktisch ausgeblieben. Kein Wunder, wenn man den Zustand helvetischer Medien betrachtet. Mittlerweile sind ihnen, so hat man den Eindruck, elementarste Grundsätze abhanden gekommen.

Wer sich durch die zahllosen Publikationen zum Tod von Osama Bin Laden liest, kann nur noch den Kopf schütteln. An dieser Stelle auf jeden einzelnen dieser Texte einzugehen, würde zu weit führen. Ich konzentriere mich deshalb auf ein besonders drastisches Beispiel. Es stammt ausgerechnet aus dem journalistischen Vorzeigemagazin «Echo der Zeit» von Radio DRS. «War die Tötung von Bin Laden legitim?», fragt Casper Selg in seinem Kommentar. Zur Überraschung aller, die Selg als intelligenten Analytiker schätzen, beantwortet er die Frage mit «Ja»!

Aber beginnen wir ganz vorne. Selg sagt:

Es ist grundsätzlich richtig, was Dutzende deutscher Kommentatoren beklagen: Kanzlerin Merkel hätte nicht sagen dürfen, sie freue sich darüber, dass Bin Laden getötet wurde. Es ist grundsätzlich auch richtig, dass es einem Rechtsstaat gut anstünde, einen Verbrecher vor Gericht zu stellen und ihn nicht einfach zu erschiessen. Auch hier haben all die vielen Kommentatoren im Prinzip Recht, wenn sie den editorialen Zeigefinger heben.

So weit so gut. Dann aber verliert Selg den Überblick:

Das alles ist grundsätzlich richtig, aber im konkreten Fall wohl naiv. Keiner dieser Kommentatoren geht nämlich der Frage nach, was denn passiert wäre, wenn die Amerikaner Bin Laden verhaftet hätten. Wie dieses Verfahren denn konkret ausgesehen hätte.

Eine Feststellung, die aus dem Mund eines Juristen doch eher erstaunt. Für jeden gebildeten Menschen ist klar: Ein Verfahren gegen Bin Laden hätte ausgesehen, wie jedes Verfahren in einem Rechtsstaat aussieht. Da gibt es ein Gericht, da gibt es Ankläger und Verteidiger, da gibt es Argumente und Gegenargumente, da gibt es Zeugen und Gegenzeugen. Und am Schluss gibt es ein Urteil, dass hoffentlich den vorgebrachten Fakten Rechnung trägt.

Hätte man Bin Laden verhaftet, so hätten die vielen von ihm geschaffenen Terrororganisationen …

Die vielen?

… die vielen von ihm geschaffenen Terrororganisationen jahrelang nur ein Ziel verfolgt: Ihr Idol freizukämpfen. Man hätte mit Geiselnahmen von Amerikanern und anderen rechnen müssen, mit Drohungen und Anschlägen und Toten, bis sich das Thema dann, vielleicht doch noch rechtsstaatlich erledigt hätte, vielleicht auch nicht.

Das stimmt. Aber: Müssen wir, wenn wir den Amerikanern glauben, nicht ohnehin dauernd mit Drohungen und Anschlägen und Toten rechnen? Und vor allem: Heisst das, Herr Selg, dass wir künftig im Kampf gegen Organisationen, die in irgendeiner Art gefährlich werden können, den rechtsstaatlichen Ansatz vergessen und zur Auge-um-Auge-Methode übergehen sollen? Wie begegnen wir fortan der Mafia in Italien? Wie dem organisierten Verbrechen in Russland? Wie der ETA in Spanien? Mit Sonderkommandos, die jeden töten, der verdächtig ist?

In jedem Fall hätte es sehr lange gedauert.

Ein Bombenargument fürs sofortige Töten. Lange, seriöse, ins Detail gehende Prozesse, die der Faktenlage schliesslich Rechnung tragen, sind Casper Selg offenbar zu mühsam. Lieber kurze, schmerzlose Urteile, am besten mit letalen Folgen.

Und, es hätte mit einem Freispruch enden können.

Tatsächlich? Genau das macht eine zivilisierte Gesellschaft mit ordentlichem Rechtssystem aus, Herr Selg. Der Angeklagte hat das Recht, sich zu verteidigen. Und das Gericht darf zum Schluss kommen, dass jemand unschuldig ist und darf ihn freisprechen.

Denn so klar uns allen scheint, wer und was Bin Laden war, dies juristisch sauber nachzuweisen, wäre sehr schwierig gewesen.

Hier hat Selg einen lichten Moment, in dem er «scheint» sagt. Genau darum geht es, Herr Selg: Wer oder was Bin Laden ist, das «scheint» uns bloss, wir haben keine anderen Quellen dafür als die wenig glaubwürdigen US-Geheimdienste. Und solange uns etwas nur «scheint», wollen wir in einem Rechtsstaat Beweise sehen, bevor wir den «Scheinenden» erschiessen.

Da geht es um lauter Vorgänge im pakistanisch-afghanischen Dickicht. Wer beschafft da Beweise, die vor einem Strafgericht in Washington oder Wuppertal anerkannt würden?

Die gleichen Leute, die im Kosovo, in Sizilien, im Baskenland und überall sonst im Dickicht des Verbrechens Beweise «beschaffen». Man nennt sie gemeinhin Staatsanwälte oder Ermittler. Es stellt sich die Frage: Hätten wir aus Dickicht-Gründen zum Beispiel auf die Nürnberger Prozesse verzichten sollen? Sollen wir künftig aus Dickicht-Gründen den Geheimdiensten vertrauen und blind hinrichten, Herr Selg?

Was, wenn das nicht gelungen wäre? Hätte Herr Bin Laden gehen und Schadenersatz einfordern dürfen? Konsequenterweise wohl ja. Nach 3500 Tausend Toten in New York, auf die Bin Laden ja stolz war, wäre das ein politisch und menschlich nicht vermittelbarer Preis gewesen. Aber den hätte man in Kauf nehmen müssen, wenn man kompromisslos für das rechtsstaatliche Verfahren eintritt.

Ein kolossaler Logikfehler: Wenn jemand freigesprochen wird, ist er normalerweise unschuldig. Mit anderen Worten: Wenn es so klar ist, dass Bin Laden für die Toten in New York verantwortlich ist, wie überall behauptet wird, dann wäre er auch dafür verurteilt worden.

Es kommt weiteres hinzu: Bin Laden selber hat auf rechtsstaatlichen Schutz verzichtet. Er verstand sein eigenes Handeln als militärischen Kampf, als heiligen Krieg. Er hat mehrfach den Befehl gegeben, in diesem Krieg Tausende von Amerikanern umzubringen, ohne Prozess. Er hat die Organisation erfunden, die in Madrid Hunderte unschuldiger Menschen in die Luft gesprengt hat, in London, anderswo.

Lauter Behauptungen, die Selg hemmungslos amerikanischen und englischen Geheimdiensten nachplappert. Behauptungen, für die wir vor der Tötung gerne Beweise gesehen hätten.

Selbstverständlich wäre es dennoch ein wichtiges Zeichen des zivilisierteren Systems gewesen, wenn Bin Laden in einer Reihe sauberer Prozesse schuldig gesprochen worden wäre. Nur war das kaum machbar. Der heilige Krieg des Einen setzt den Möglichkeiten des Anderen Grenzen.

Genau. Und die Propaganda des Einen setzt den journalistischen und ethischen Möglichkeiten des Anderen Grenzen.

Zu guter Letzt schenkt uns Selg ein bisschen Kitsch:

An der Güterabwegung, welcher Weg weniger Tote fordert, kommt man letztlich nicht vorbei, auch wenn schon ein Toter einer zu viel ist.

Und:

So gesehen darf man sich über den Ausgang der Geschichte sicher nicht freuen, im Gegenteil, aber man muss anerkennen, dass es plausible Alternativen wohl nicht wirklich gab.

Was denn nun? Sich nicht freuen und trotzdem einverstanden sein? Den Vorgang verurteilen und trotzdem applaudieren?

Casper Selg scheint sich nicht im Klaren darüber zu sein, was er mit seinem Kommentar tut. Er spricht sich für nichts Anderes als die Todesstrafe ohne Anhörung, ohne Prozess, ohne Verteidigung, ohne nichts aus.

Und, wenn wir Selgs abstruser Logik folgen, hätten zum Beispiel die Irakis heute mangels Alternativen das Recht dazu, mit einem Sonderkommando in die USA einzudringen, George W. Bush auf seiner Farm zu erschiessen und im Meer zu versenken. Schliesslich liegt der Fall ganz ähnlich wie bei Bin Laden: Man wird George W. Bush für den völkerrechtswidrigen Krieg im Irak (mit zirka 100’000 Toten) nie vor ein Gericht stellen und verurteilen können.

Würden Sie einen solchen Vorgang auch rechtfertigen, Herr Selg?

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