Gesunder Menschenverstand?

Oliver Zihlmann, Leiter Nachrichten bei der SonntagsZeitung, hatte am vergangenen Samstag ein Problem, das jeder Journalist kennt: Was tun, wenn man zu einem komplexen Sachverhalt einen Kommentar schreiben soll, aber nichts zu sagen hat?

Zihlmann «löste» das Problem, ohne lange nachzudenken. Unter dem Titel «Vergesst die Paragrafenreiterei» (online nicht erhältlich) schrieb er zum Fall des Jean-Louis B.:

Wenn man einen Mörder und Vergewaltiger im Wagen hat, schliesst man das Auto mit Kindersicherung ab und fesselt ihn.

Kindersicherung?

Wenn er davonlaufen will, diskutiert man nicht, sondern stoppt ihn, wenn nötig mit Gewalt.

Einen Mörder stoppen, wenn man unbewaffnet ist?

Die Flucht des Mörders Jean-Louis B. führt uns drastisch vor Augen, was passiert, wenn Beamte vor lauter Paragrafen das Wesentliche nicht mehr sehen. Das gilt erst recht für all jene, die auf die Idee kamen, B. Hafturlaub zu gewähren. Wenn es um Leben und Tod geht, gilt schlicht der gesunde Menschenverstand. Nicht anderes.

Gesunder Menschenverstand, nichts anderes?

Ist es nicht eher so, dass aus lauter individuellem gesundem Menschenverstand Paragrafen missachtet wurden? Braucht es deshalb nicht eher klarere Paragrafen und weniger individuellen gesunden Menschenverstand?

Hätte Zihlmann kurz die eigene Zeitung gelesen, bevor er in die Tasten gehauen hat, wäre der Kommentar wohl anders herausgekommen. Im Hauptartikel zum Thema Jean-Louis B., notabene auf der gleichen Seite wie Zihlmanns Text, steht nämlich:

Im Fall Jean-Louis B. ist klar: Der verwahrte Sexualstraftäter und Mörder konnte ausreissen, weil zu viele Stellen für ihn zuständig waren und Regeln nicht eingehalten wurden.

Und gleich daneben, im Interview (online nicht erhältlich) mit Dominik Lehner, dem Präsidenten der Fachkommission zur Beurteilung gemeingefährlicher Straftäter, lesen wir:

Dieser Vorfall zeigt, dass wir langfristig nicht um ein schweizerisches Strafvollzugsgesetz herumkommen. Jetzt hat jeder Kanton seine eigenen Vollzugsgesetze, und die Konkordate haben zusätzlich verschiedene Richtlinien. Das lässt zu viel Spielraum übrig, gerade wenn es um Urlaubsregelungen geht.

Fazit: Zu viel Spielraum für gesunden Menschenverstand!

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