Wenn Justitia eine Augenbinde trägt, hat das einen Sinn: Vor dem Gesetz sollen alle gleich sein. Wenn Richter eine Augenbinde tragen, hat das fatale Folgen für die Gerechtigkeit – so wie im Fall Hugo Rey versus Credit Suisse. Das Bundesgericht hat Reys Beschwerde gegen das Urteil des Berner Handelsgerichts abgewiesen – und dabei die Augen vor mehr als stichhaltigen Argumenten verschlossen.
Einen Monat nach Bekanntgabe des Urteils im Fall Hugo Rey versus Credit Suisse hat das Bundesgericht bereits die schriftliche Begründung vorgelegt. Wer den Text liest, wundert sich nicht ob des Tempos. Gerade mal 14 Seiten benötigen die obersten Richter des Landes, um die ausführliche und bis ins Detail begründete Eingabe von Rechtsanwalt Michael Lauper abzuweisen. 14 Seiten, auf denen kaum auf die Kritik am vorinstanzlichen Urteil eingegangen wird. 14 Seiten, auf denen das Bundesgericht das Skandalurteil des Berner Handelsgerichts mit Argumenten stützt, die nicht nachvollziehbar und juristisch fragwürdig sind. 14 Seiten, die den Eindruck vermitteln, dem Bundesgericht sei es nur um möglichst schnelle Erledigung der Beschwerde gegangen.
Falsche Factsheets: Kein Thema
Die ersten fünf Seiten der Urteilsbegründung dienen dazu, den vom Handelsgericht festgestellten Sachverhalt wiederzugeben und mittels vorgefertigter Textblöcke zu beschreiben, worin die Aufgaben des Bundesgerichts liegen. Interessant wird es ab Punkt 2.2. Da steht:
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Wer den Fall Rey versus CS kennt, fragt sich, wie diese Voraussetzung nicht gegeben sein kann. Was kann «offensichtlicher unrichtig» sein, als ein Urteil mit Factsheets zu begründen, die falschen Datums sind? Mit Dokumenten aus dem Jahr 2009 lässt sich beim besten Willen nicht beweisen, was Hugo Rey im Jahr 2005 auf der ihm gegebenen Kundeninformation hätte sehen sollen (siehe Analyse zum Urteil des Handelsgerichts Bern, Abschnitt «1. Falsche Factsheets»).
Es scheint, als hätte das Bundesgericht diesen Umstand schlicht nicht bemerkt, es erwähnt das Problem jedenfalls auch später mit keiner Silbe. Im Gegenteil, unter Punkt 3.1 schreibt es:
Aufgrund der Tatsache, dass die einzelnen Anlagemöglichkeiten anhand der Kundendokumentation und der Factsheets besprochen worden seien und der Beschwerdeführer nach Erteilung der Weisung Anteile am Fonds «Activest Total Return» erworben habe, habe die Beschwerdegegnerin nach Treu und Glauben davon ausgehen können, dass sich die Weisung einzig auf Direktanlagen bezogen habe und indirekte Anlagen, zu denen auch strukturierte Produkte gehörten, davon nicht erfasst seien.
Es ist und bleibt ein Rätsel, wie das Handelsgericht Bern zu dieser Ansicht kommen konnte und weshalb das Bundesgericht diese Ansicht stützt.
Ebenso unverständlich ist die Begründung, weshalb die dem Bundesgericht nachgereichten Original-Factsheets von Hugo Rey nicht als Beweismittel angenommen wurden. Unter Punkt 2.3.1 lesen wir:
Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Ansicht trifft es nicht zu, dass erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gegeben hätte, sich auf die nunmehr eingereichten Produktebeschriebe und Factsheets zu berufen. Die Unterlagen wurden im vorinstanzlichen Verfahren thematisiert; (…)
Diese Aussage ist schlicht falsch. Die fraglichen Factsheets sind zwar von der CS tatsächlich eingereicht worden, das entscheidende (falsche) Dokument aus der Sitzung vom 24. Februar 2005 war aber im vorinstanzlichen Verfahren nie ein Thema. Die CS argumentierte weder in ihrer Klageantwort noch vor Gericht mit dessen Inhalt, das heisst, sie argumentierte nie mit dem angeblich sichtbaren US-Anteil von 8,2% des Papiers. Zum zentralen Aspekt des Rechtsstreits wurde das Dokument erst mit dem Urteil des Handelsgerichts, das sich hauptsächlich darauf stützt, dass der US-Anteil für Rey sichtbar gewesen sein soll.
Die nötigen Umstände zur Nachreichung der Original-Factsheets waren also gegeben. Und: Selbst wenn man der Argumentation des Bundesgerichts folgt und die neu eingereichten Original-Factsheets nicht akzeptiert, hätte man auch in Lausanne feststellen müssen, dass die Sachverhaltsfeststellung des Handelsgerichts Bern aufgrund des falschen Factsheets willkürlich ist.
Kritik am Beschwerdeführer: juristisch fragwürdig
Unter Punkt 2.3.3 behaupten die Bundesrichter:
Verschiedentlich erweitert der Beschwerdeführer zudem den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt und behauptet unter Hinweis auf die Rechtsschriften des kantonalen Verfahrens, die entsprechende Behauptung sei unbestritten geblieben, ohne jedoch eine hinreichend begründete Sachverhaltsrüge zu erheben.
Was unsinnig ist. Denn: Wenn die Vorinstanz einen unbestrittenen Sachverhalt, der für die Beurteilung zentral ist, im Urteil nicht erwähnt, dann kann dem Gericht unvollständige Sachverhaltsfeststellung vorgeworfen werden. Und: Was bitte soll ein Beschwerdeführer mehr tun, als den unbestrittenen unvollständigen Sachverhalt detailliert aufzuzeigen und ebenso detailliert zu rügen, wieso der «vergessene» Punkt für die Rechtsanwendung wesentlich ist?
Art des Produkts: Problem nicht erkannt
In einem einzigen Punkt steigt das Bundesgericht kurz auf die Argumente der Beschwerde ein. Unter Punkt 3.2 schreibt es:
Zwar ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass die von der Vorinstanz vorgenommene Unterscheidung in (unzulässige) direkte und (zulässige) indirekte Anlagen in dieser allgemeinen Form nicht auf Anhieb überzeugt, zumal der erklärte Verzicht auf US-Aktien etwa kaum in guten Treuen in dem Sinne verstanden werden könnte, dass ein reiner US-Aktienfonds zulässig wäre.
Hier kommt kurz die Hoffnung auf, das Bundesgericht habe eines der Probleme erkannt. Die Hoffnung ist leider von kurzer Dauer. Schon der nächste Satz lautet:
Ein vergleichbares Anlageprodukt steht im zu beurteilenden Fall jedoch nicht zur Diskussion.
Formell betrachtet mag das stimmen. Aber: Es kann im vorliegenden Fall bezüglich der Weisung definitiv nicht um die äussere Rechtsform eines Finanzprodukts gehen, der materielle Inhalt muss ausschlaggebend sein. So gesehen ist die Schlussfolgerung des Bundesgerichts eine grobe Fehleinschätzung. Denn: Das Handelsgericht Bern hatte in geradezu fahrlässiger Weise übersehen, dass das fragliche Lehman-Papier weit mehr als einen kleinen US-Bezug enthielt. Die strukturierte Lehman-Anlage war erstens zu 100% ein US-Papier (Emittent Lehman) und beinhaltete zweitens zu 56% US-Firmen (siehe Analyse zum Urteil des Handelsgerichts Bern, Abschnitt «3. Lehman-Anlage = ‹156% › USA»).
Deshalb: Was bitte ist beim umstrittenen Lehman-Papier anders als bei einer Aktienanlage oder einem reinen US-Aktienfonds? Genau: nichts! Der eingesetzte Betrag geht zu 100 Prozent an den «Herausgeber», also im zu beurteilenden Fall an eine US-Firma. Umso stossender ist die Einschätzung von Handelsgericht und Bundesgericht, als in Finanzkreisen allgemein bekannt war, dass sich die Investmentbank Lehman mit der Herausgabe ihren strukturierten Produkten refinanzierte und mit dem Geld spekulierte. Also genau das tat, was Rey nicht wollte.
Die Argumentation des Bundesgerichts gipfelt in der Aussage:
Zum einen bringt der Beschwerdeführer selbst vor, dass es sich bei der «4-jährigen CHF Podium Note» um eine reine Schuldverschreibung mit garantierter Rückzahlung des Nominalwerts handelt und nicht vorgesehen ist, dass die Emittentin die Anlagetitel in die Basiswerte investiert.
Ein starkes Stück: Das Bundesgericht lenkt mit der Basiswerte-Bemerkung absichtlich davon ab, dass Hugo Reys Geld an eine US-Firma gegangen ist, die damit arbeiten und spekulieren konnte, wie sie wollte. Die Argumentation mit den Basiswerten war in der Beschwerdeschrift nur ein zusätzliches Argument um aufzuzeigen, weshalb es sich hier in doppelter Hinsicht (Emittent und Basiswerte) um ein US-Produkt handelt. Kurz: Was für eine Rolle spielt es, ob und in welche Basiswerte investiert wird, wenn der Emittent eine US-Firma ist? Richtig: keine!
Dann übertreffen sich die Bundesrichter selbst. Sie schreiben:
Zum anderen lautet die strittige «Podium Note» nicht auf US-Dollar, sondern auf Schweizer Franken.
Als ob das wichtig wäre. Wichtig ist im vorliegenden Fall, wohin Hugo Reys Geld ging und wer Emittent und Garant des Produkts war.
«0,0% USA»: möglich?
Zu guter Letzt unterstützt das Bundesgericht die vom Handelsgericht freihändig kreierte Behauptung, in einer globalisierten Welt sei «0,0% USA» nicht mehr möglich. Es schreibt:
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers lässt sich aus der von ihm erwähnten «Aversion gegen das Bush-Regime» und seiner «Abneigung gegenüber der amerikanischen Politik», die er «in keinem Fall mit seinem Geld unterstützen» wolle, nach Treu und Glauben keine entsprechende Vorgabe ableiten. Angesichts der engen internationalen Verflechtung der Wirtschaft und der Bedeutung der USA als grösste Volkswirtschaft lassen sich praktisch beliebig gewisse Bezüge herstellen.
Abgesehen davon, dass diese Aussage jeder Grundlage entbehrt, verstrickt sich das Bundesgericht damit in einen kapitalen Widerspruch. Keine 50 Zeilen weiter oben hatte es nämlich geschrieben, die vom Handelsgericht vorgenommene Unterteilung von Reys 0,0%-Weisung in (unzulässige) direkte und (zulässige) indirekte Anlagen überzeuge in dieser Form nicht, auch ein reiner US-Aktienfonds wäre «in guten Treuen» nicht zulässig. Was erstens nichts Anderes heisst, als dass das Bundesgericht der Ansicht ist, dass es letztlich um den materiellen Gehalt des Produkts geht, und dass zweitens eine Umsetzung von Reys Weisung möglich gewesen wäre.
Michael Lauper schreibt in seiner Beschwerdeschrift:
Wenn ein Anlagefonds mit 100 % Länderanteil USA von der Weisung erfasst ist, weshalb soll dann ein Fonds, der zu 99 %, 90 %, 80 %, 70 %, 60 % oder 50 % in amerikanische Papiere investiert, und auch das strukturierte Produkt der Lehman-Bank mit einem Länderanteil USA von 56 %, davon ausgeschlossen sein?
Den ersten Teil der Aussage stützt das Bundesgericht, es widerspricht damit dem Handelsgericht. Unbegreiflicherweise folgt es aber der logischen Folgerung im zweiten Teil nicht. Deshalb noch einmal zur Klarheit: Wenn das Handelsgericht interpretiert, Hugo Reys Aussage habe sich nur auf direkte, nicht auf indirekte Anlagen bezogen, ist das willkürlich. Entscheidend ist, wohin Hugo Reys Geld gegangen ist.
Quo vadis Bundesgericht?
Bleibt die Frage, wozu das Bundesgericht überhaupt noch gut ist? Klar, es braucht eine Instanz, die in Rechtsfragen verbindliche Entscheide trifft. Aber ebenso wichtig wäre eine Instanz, die offensichtlich falsche Sachverhaltsfeststellungen korrigiert. Das tut das Bundesgericht seit Jahren nicht mehr, nicht einmal dann, wenn die Einschätzung der Vorinstanz schwächer als schwach ist.
Das Verhalten des Bundesgerichts in Sachverhaltsfragen müsste deshalb in breiterem Rahmen diskutiert werden. Denn: Ein wichtiger Teil unseres Rechtssystems ist die Möglichkeit, einen Fall weiterzuziehen. Diese Möglichkeit ist im Kanton Bern in handelsrechtlichen Streitigkeiten im Prinzip nicht mehr gegeben. Die gerichtliche Auseinandersetzung beginnt auf Stufe Handelsgericht, nächste und einzige Rechtsmittelinstanz ist das Bundesgericht. Solange sich dieses weigert, auf Sachverhaltsrügen ernsthaft einzusteigen, ist die Rekursmöglichkeit faktisch gestorben. Das ist im vorliegenden Fall umso stossender, als die Sachverhaltsfeststellung des Handelsgerichts Bern aufgrund der falschen Factsheets offensichtlich willkürlich ist.
Mehr zum Thema falsche Factsheets vor dem Handelsgericht und zum Thema Bundesgericht folgt in den nächsten Tagen.
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