Thesen-Journalismus macht seit Jahren Schule. Auch bei sogenannten Leitmedien neigen viele (nicht alle!) Schreibenden dazu, anstelle einer breit abgestützten Recherche die eigene Meinung (oder die Meinung der Zeitung) ins Blatt zu stellen. Was ins Bild passt, wird unkritisch ausgebreitet, was nicht passt, wird kurzerhand todgeschwiegen.
Einen exemplarischen Text hat am vergangenen Montag die «Frankfurter Allgemeine», die NZZ Deutschlands, publiziert. Christiane Hoffmann und Antje Schmelcher liefern mit «Wo die wilden Kerle wohnten» einen einseitigen, moralisierenden und in vielen Teilen schlicht falschen Rundumschlag gegen das Medikament Ritalin, das bei Kindern mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom) eingesetzt wird.
Mit der Aussage «90 Prozent der ADHS-Diagnosen sind falsch» legt der Artikel gleich zu Beginn den Ton fest. Sicherlich, Ritalin wird manchmal zu schnell verschrieben. Aber von 90 Prozent auszugehen, ist eine Behauptung, für welche die Autorinnen keine brauchbare Quelle – zum Beispiel wissenschaftliche Studien – präsentieren. Sie stützen sich einzig auf die Aussage der Direktorin einer Kinderklinik – das muss für FAZ-Journalistinnen offenbar reichen.
Der «Richtigkeitsgehalt» des restlichen Textes bewegt sich auf ähnlichem Niveau: Plattitüden, Behauptungen und Lügen folgen sich Abschnitt für Abschnitt. Die Autorinnen gehen davon aus, dass ADHS anerzogen ist. Medizinische, angeborene Ursachen schliessen sie von vornherein aus. Was umso erstaunlicher ist, als die Wissenschaft derzeit in die gegenteilige Richtung tendiert. Bei Wikipedia lesen wir:
Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist nach derzeitigem Stand (2009) ein multifaktoriell bedingtes Störungsbild mit einer erblichen Disposition, welche die Ausbildung der Krankheit begünstigt.
Noch expliziter beschreibt es ADHS-Spezialist Piero Rossi:
Als Ursache für ADHS wird gegenwärtig eine genetisch bedingte neurobiologische Funktionsstörung postuliert (Wissensstand 11/2011). Betroffen sind diejenigen Hirnabschnitte, welche übergeordnete Steuerungs- und Koordinationsaufgaben übernehmen. Das Gehirn kann unwichtige innere und äussere Reize und Impulse schlecht ausfiltern sowie hemmen. Dies führt zu den bekannten Symptomen wie Ablenkbarkeit, Impulsivität und Zappeligkeit.
Solche und ähnliche Formulierungen finden sich in wissenschaftlichen Texten zuhauf. Als Journalist stelle ich deshalb fest: Eine medizinische Ursache für ADHS ist wahrscheinlich – oder wenigstens nicht von vornherein auszuschliessen. Die Journalistinnen der FAZ sehen das anders. Sie schreiben:
Für ein schwieriges Kind gibt es Gründe: überforderte Eltern, eine kaputte Familie, unfähige Lehrer, zu viel Computerspiele und zu wenig Kletterbäume.
Was völlig undifferenziert ist. Die angeführten Gründe können zwar laut den allermeisten wissenschaftlichen Publikationen zu einer Verstärkung von ADHS-Symptomen führen, Ursache sind sie nicht.
Aber eben, wen interessiert schon Wissenschaft, die eigene Meinung muss mal wieder gesagt sein und ein abstruses Weltbild drückt durch:
Wenn ein schwieriges Kind für krank erklärt wird, braucht sich niemand verantwortlich zu fühlen: Krankheiten können genetisch veranlagt sein oder Schicksal oder beides.
Was bitte ist der Unterschied zwischen genetisch veranlagt und Schicksal? Genetische Veranlagung ist das, was man in wissenschaftlichen Kreisen gemeinhin als «Schicksal» bezeichnen würde.
Immer wieder vermittelt der Artikel den Eindruck, das Umfeld sei an allem schuld:
Von klein an sollte Paul umfassend auf die Leistungsgesellschaft vorbereitet werden. Er kam in einen bilingualen Kindergarten. Es ging ihm nicht gut dort. Trotzdem wurde er auf der Europa-Schule eingeschult: Die Probleme wurden schlimmer. Paul rastete aus, in der Schule, zu Hause.
Wie gesagt: Nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis hat ein Kind ADSH von Geburt an. Mit anderen Worten: ADHS kann von den bösen Eltern höchstens vererbt und durch ein ungünstiges Umfeld verstärkt werden, es kann nicht aus dem Nichts ausgelöst werden.
Zudem leben wir nun mal in einer Leistungsgesellschaft. Eltern haben den Auftrag, ihre Kinder auf das Leben da draussen vorzubereiten, ihnen den bestmöglichen Rucksack mitzugeben. Von einer stress- und druckfreien Welt zu träumen, die jeder und jedem Zeit für seinen persönlichen Rhythmus und seine persönliche Pläsierchen lässt, ist realitätsfremd.
Vierzig Jahre später, kurz vor seinem Tod, gestand Eisenberg dem Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech, dass er nicht mehr an ADHS glaubt. ADHS, sagte er, sei «ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung».
Keine Krankheit, ein Deutungsmuster: als psychisch krank wird definiert, was gegen bestimmte Regeln verstößt und von Normen abweicht.
Noch einmal: ADHS ist nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis keine psychische Krankheit, sondern eine neurologische Störung. Psychisch krank werden Kinder und Jugendliche dann, wenn sie überall anecken, keine normalen Freundschaften führen können, vom Sozialleben weitgehend ausgeschlossen sind.
«Unsere Systeme sind für Jungen unfreundlich geworden», sagt Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen und ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrats für Gesundheit. Jungen, so meint er, wollten risikoreicher leben und sich erproben. Dafür fehlten ihnen aber heute die Freiräume.
Das stimmt, hat aber beim besten Willen nur bedingt mit ADHS zu tun. Die Auswirkungen von ADHS können durch die mangelnden Freiräume und den steigenden Druck verstärkt werden. Mehr nicht.
Fegeler hält die Begleiterscheinungen von ADHS wie Lese- und Rechtschreibschwächen, Tics und Auffälligkeiten im Sozialverhalten in Wirklichkeit für psychische Reaktionen darauf, wie die Gesellschaft mit diesen Jungen umgeht. «Sie kriegen ständig eins drauf, das macht sie psychisch krank», sagt er.
Stimmt: Sie kriegen ständig eins drauf, weil sie ADHS haben. Das macht sie psychisch krank. Nicht umgekehrt. Ritalin hilft den Betroffenen, nicht mehr anzuecken und positive Erfahrungen zu machen.
Professor Glaeske spricht bei ADHS von «Zuschreibungsdiagnosen». Sie werden unter gesellschaftlichem Druck ausgestellt, um die Gabe leistungssteigernder Mittel zu legitimieren.
Das ist grundsätzlich falsch: Ritalin wird in den allermeisten Fällen nicht abgegeben, um die Leistung zu steigern, sondern um den Kindern schlicht und ergreifend zu ermöglichen, ihr natürliches Potenzial abzurufen. Zudem, und das führt den ganzen FAZ-Artikel ad absurdum, wirkt das Medikament bei Leuten, die kein ADHS haben, kontraproduktiv.
Doch das ist nicht so einfach. Ritalin, das in hoher Dosierung ähnlich wirkt wie Kokain, macht psychisch abhängig.
Hier wird es zunehmend hässlich, denn die Behauptung, Ritalin mache abhängig, ist schlicht eine Lüge. Bis heute konnte bei fachgerechter medizinischer Anwendung kein Fall von Abhängigkeit nachgewiesen werden. Und: ADHS-Betroffene sind generell einer höheren Suchtgefahr ausgesetzt. Studien zeigen, dass der Einsatz von Ritalin diese Gefahr senkt.
Wenn Paul die Tablette vergisst, kommt er von der dritten Stunde an nicht mehr mit.
Klar kommt Paul nicht mehr mit, wenn die Wirkung des Medikaments nachlässt. Deswegen nimmt er ja das Medikament. Was bitte hat das mit Sucht bzw. psychischer Abhängigkeit zu tun?
Robins Mutter hält Ritalin für ein Verbrechen an den Kindern. «Wenn ich meinem Kind ein Medikament gebe, damit es in der Schule besser wird, zeige ich ihm doch, dass ich es ändern will. Dann muss mein Sohn doch denken, dass ich ihn ohne Medikament nicht ertragen kann. Wo steht eigentlich geschrieben, dass ein Kind nicht anstrengend sein darf?»
Robins Mutter hat ganz offenbar ein Kind, das «nur» anstrengend ist. Eine häufige ADHS-Realität sind aber Kinder, mit denen ein normaler Alltag nicht möglich ist, die ihre Geschwister an Leib und Leben gefährden, die nicht schlafen und ihrem Umfeld das Leben zur Hölle machen. Ist es tatsächlich ein Verbrechen, diesen Kindern zu helfen? Ist es tatsächlich ein Verbrechen, ein Kind mit einem Medikament darin zu unterstützen, überhaupt fähig zu sein, soziale Kontakte zu knüpfen, um in unserer Welt zu bestehen?
Anders gefragt: Was passiert mit jenen Kindern, die das Medikament nicht erhalten haben? Man könnte von Verbrechen sprechen, wenn man diesen Kindern die Chance verweigert, eine Ausbildung zu machen, die ihrem Niveau entspricht. Man könnte von Verbrechen sprechen, wenn man diesen Kindern die Möglichkeit nimmt, ein «normales» Sozialleben zu führen, wenn man sie dauernden Misserfolgen aussetzt, ihr Selbstwertgefühl schwächt und sie damit längerfristig für Depressionen anfällig macht.
Der Artikel der FAZ-Autorinnen nimmt, wenn mit offensichtlichem Wohlwollen extreme Haltungen wie diejenige von Robins Mutter geschildert werden, religiöse Züge an. Der Ton erinnert stark an moralschwangere Texte gegen die Abtreibung. Ist das der richtige Weg, um einen vernünftigen Umgang mit Ritalin und anderen Medikamenten zu finden? Wohl kaum.
Ich frage die Autorinnen:
- Was würden Sie tun, wenn Ihr Kind praktisch von Geburt an unglaublich aggressiv ist, wenn es kaum schläft, keine sozialen Kontakte findet, seine Geschwister an Leib und Leben gefährdet?
- Was würden Sie tun, wenn Sie und Ihr Umfeld über die Grenzen hinaus belastet werden, wenn die Familie auseinanderzufallen droht?
- Würden Sie Ihr Kind lieber in ein Heim geben oder ihm ein Medikament verabreichen?
- Würden Sie höhere Steuern bezahlen, damit ADHS-Kinder in Sonderschulen ausgebildet werden können?
- Was würden Sie tun, wenn Ihr Kind Zucker hat? Würden Sie ihm Insulin geben?
- Angenommen, ADHS wäre tatsächlich rein psychisch: Wollen Sie allen psychisch Kranken die Medikamente verweigern?
……..
PS 1: Nein, ich habe kein ADHS. Aber ich werde ein klein wenig aggressiv, wenn ich solche Texte lese …
PS 2: Nein, ich habe keine Kinder, die Ritalin nehmen.
PS 3: Ja, ich kenne Eltern mit Ritalin-Kindern. Aber aus Einzelfällen lassen sich keine Schlüsse ziehen.
PS 4: Ja, den Ritalin-Kindern geht es gut, viel besser als vorher. Sie haben Freunde, treiben Sport, kommen in der Schule klar, führen ein normales Leben.
PS 5: Nein, ich habe keine Novartis-Aktien.
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