Terrorwarnungen:
der totale Schwachsinn

Jahr für Jahr kommen Terrorwarnungen aus den USA – Geheimdienstinformationen, die nicht überprüft werden können, weder von Journalisten, noch von Experten.

Und Jahr für Jahr spielen die meisten Medien brav mit. Der aktuelle Hype wird in der Schweiz zwar vereinzelt ein klein wenig hinterfragt (1, 2). Aber mal so richtig zweifeln an den Geschichten, die uns aufgetischt werden, mag dann doch niemand. Selbst wenn die Geschichten kaum schwachsinniger sein könnten.

Man muss nicht überaus helle sein, um sich zu fragen:

  • Kommunizieren Terroristen tatsächlich immer noch per Email und Telefon, obschon heute jedes Kind weiss, dass Telefon- und Online-Kommunikation überwacht werden?
  • Was bringt es, US-Botschaften für 14 Tage zu schliessen, falls tatsächlich «grosse» Angriffe geplant sind? Selbst der engstirnigste Extremist dürfte in der Lage sein, seinen Anschlag notfalls um eine Woche zu verschieben.
  • Was bringt es, Terrorabsichten gegen das europäische Eisenbahnnetz öffentlich zu machen? Können wir aufs Zugfahren verzichten? Kann man das Eisenbahnnetz umfassend schützen?

Diese und andere naheliegende Fragen habe ich in Schweizer Medien kaum gelesen. Dafür umso mehr Nonsens. Den bis heute einsamen Höhepunkt helvetischen Medienschwachsinns rund um die aktuellen Terrorwarnungen fand sich vor 14 Tagen im Tagesanzeiger/Bund. Simon Knopf interviewt den sogenannten Terrorismus-Experten Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Herr Steinberg, die USA haben aus Sorge vor Anschlägen 19 ihrer Botschaften geschlossen. Details zu den Hinweisen kommunizieren sie kaum. Wie beurteilen Sie die Gefahrenlage?
Ich kann mir gut vorstellen, wie die vorliegenden Informationen aussehen: sehr konkret und gleichzeitig sehr vage. Es gibt wahrscheinlich konkrete Gespräche über einen möglichen Anschlag. Gleichzeitig gibt es überhaupt keine Details darüber, wer den Anschlag verüben könnte, wie der verübt wird und wo er verübt wird.

Wenn Hinweise zwar sehr konkret, aber gleichzeitig sehr vage sind, ist das geradezu perfekt, um ein bisschen Angst und Schrecken zu verbreiten. Ganz abgesehen davon: wo nichts überprüft werden kann, kann grundsätzlich alles behauptet werden.

Die Parallele zu den Wochen vor dem 11. September 2001 wurde schon gezogen …
Genau. Diese Parallele zeigt, wie die momentane Gefahr aussehen könnte. Wir wissen, dass im August 2001 sehr viel zu hören war. Es war fast allen Beteiligten klar, dass etwas passieren würde. Aber niemand wusste, wo die Anschläge stattfinden oder wie sie verübt würden. Das scheint nun ähnlich zu sein.

12 Jahre nach 9/11 sind die meisten Terrorexperten (und auch die meisten Journalisten) keinen Schritt weiter. Die Mär der vielen Hinweise über die Anschläge, die man in den USA einfach nicht zum richtigen Bild zusammenfügen konnte, ist mittlerweile mehr als widerlegt. US-Geheimdienste gingen konkreten Hinweisen nach (schon lange vor dem besagten August 2001) – bis jeweils von höchster Stelle das Kommando kam, die mutmasslichen Terroristen in Ruhe zu lassen (1, 2, 3, 4, 5).

Dafür ist die Schliessung von Botschaften eine sehr gezielte Massnahme. Wie erklären Sie sich diese?
Die Amerikaner leben noch immer mit dem Trauma des 11. Septembers. Meines Erachtens wollen sie sich den Vorwurf ersparen, nicht gehandelt zu haben. Mir scheint, die Schliessung der Botschaften basiert auf einer Vermutung und ist ein Zeichen für die Hilflosigkeit der Amerikaner. Es gibt weltweit so viele denkbare amerikanische Ziele, dass die Regierung lediglich die Botschaften ausschliessen kann.

Weshalb man mit der kurzzeitigen Schliessung der Botschaften diese als Ziel ausschliessen kann, bleibt ein Rätsel. Schlimmer an Steinbergs Antwort ist aber die Bemerkung zur Hilflosigkeit der Amerikaner. Das Gegenteil ist der Fall: Die USA fördern, zum Beispiel mit ihren Dronenangriffen in Pakistan, Extremismus und damit Terrorismus nach Kräften. Krieg, Terror und Antiterror ist Big Business und sichert Zehntausende von Arbeitsplätzen (1, 2, 3, 4, 5).

Stichwort Hilflosigkeit: Terrorismus-Experte Seth G. Jones betont, wie diffus die Bedrohungslage geworden ist. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, auf jeden Fall. Bis 2009 ging die grösste Gefahr stets von Al-Qaida in Pakistan aus. Das war die einzige Quelle von grossen kontinentübergreifenden Anschlägen auf die USA. Das hat sich in der Zwischenzeit geändert.

Inwiefern?
Erstens wurde die Zentralorganisation der al-Qaida sehr stark geschwächt und ist kaum noch zu identifizieren. Zweitens – und damit verbunden – haben die Ableger im Irak, in Algerien und im Jemen ihre Handlungsoptionen enorm ausgeweitet. Die jemenitische al-Qaida etwa hat sehr grosse Ambitionen und plante bereits 2009 einen Anschlag in den USA. Diese Diffusion des al-Qaida-Terrorismus spiegelt sich somit deutlich in der jetzigen Situation wider: Auf der Grundlage der amerikanischen Informationen ist eine ganze Reihe von Anschlagsszenarien möglich.

Sehr grosse Ambitionen = 1 geplanter Anschlag 2009, jetzt ein paar neue, wenig konkrete Anschlagspläne? Zudem: eine ganze Reihe von Anschlagsszenarien ist immer möglich, nicht nur jetzt.

Was könnte konkret passieren?
Das kann man nicht sagen. Ich glaube, es verbietet sich, Spekulationen anzustellen, weil man damit ja auch öffentlich Vorschläge macht.

Hoppla, da nimmt sich einer aber sehr ernst. Glaubt Steinberg tatsächlich, dass Al-Qaeda das Internet nach seinen Vorschlägen für Terrorziele durchforstet? Im Ernst: Wenn die islamische Terrorgefahr so gross wäre, wie uns allenthalben weiss gemacht wird, dann bliebe hier kein Stein auf dem anderen. Es wäre ein leichtes, Grundwasser zu vergiften, öffentliche Veranstaltungen, Züge, Busse usw. anzugreifen. Es ist unmöglich, das gesamte öffentliche Leben zu schützen. Und trotzdem passiert so gut wie nichts. An was das wohl liegen mag?

Al-Qaida geht es also darum, ihr Handeln historisch zu verankern?
Heutzutage zeigt die Organisation damit vor allem, dass sie noch aktiv ist. Wenn man am 7. August einen Anschlag verübt, schlägt man eine Brücke zum Jahr 1998, zum ersten grossen Al-Qaida-Attentat. Wenn man am 12. Oktober zuschlägt, schlägt man eine Brücke zum ersten Anschlag im Jemen im Jahr 2000 auf die USS Cole. Das muss die Organisation tun, wenn sie zweifelsfrei vermitteln will, wer der Urheber ist.

Wow, das sind ausgesprochen raffinierte und eindeutige Mittel, um die Verantwortung für einen Anschlag zu übernehmen. Wie wärs mit einem (nicht verwackelten) Video oder einem Bekennerschreiben?

Auf einer anderen Ebene wurde die Öffentlichmachung der Bedrohung als Legitimationsversuch der US-Regierung für das Abhörprogramm der NSA interpretiert. Eine legitime Interpretation?
Ich glaube nicht, dass die Sicherheitsbehörden von solchen Motiven angeleitet sind. Der gesamte Inhalt der Warnung spricht dagegen. Erstens: Mit der Veröffentlichung der Bedrohungslage machen die amerikanischen Behörden etwas, was keine Sicherheitsbehörde mag: sie erregen Furcht. Das würden sie nicht tun, wenn sie nicht der Meinung wären, dass dies absolut notwendig ist. Zweitens: Durch die Schliessung der Botschaften beeinträchtigen sie die Funktionsfähigkeit der amerikanischen Aussenpolitik. Drittens: Es gibt zwar auch in den USA eine Debatte zum Thema Abhören und NSA, diese ist aber deutlich weniger kontrovers als in Europa.

Keine Sicherheitsbehörde mag es, Furcht zu erregen? Sorry, Herr Steinberg, aber diese Aussage ist in Zeiten des öffentlichen «War on Terror», mit dem die Angst der Bevölkerung auf einem genügend hohen Level gehalten wird, an Dummheit und Ignoranz kaum mehr zu überbieten.

Was entgegnet «Journalist» Simon Knopf auf diesen Nonsens? Natürlich nichts.

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