Wann immer in Nahost die Waffen sprechen, wann immer Kritik an Israels Vorgehen laut wird, lässt eines nicht lange auf sich warten: die Antisemitismus-Keule. Auch jetzt wird wieder zugeschlagen. Jüngster Täter: der jüdische Zürcher Schriftsteller Thomas Meyer. Was er am Mittwoch im Tages-Anzeiger zum Besten gegeben hat, zielt deutlich unter die Gürtellinie. Sein Text ist unsäglich pauschalisierend, dümmlich, arrogant. Die Botschaft ist klar: Linke, die nicht sehr sehr profunde Kenner des Israel-Palästina-Problems sind und nicht gleichzeitig alle anderen Konflikte dieser Welt kennen und aufs Schärfste verurteilen, dürfen Israel nicht kritisieren! Sonst: Antisemit!
Geschrieben hat Meyer den Text als Replik auf einen Artikel von Daniel Vischer, Nationalrat der Grünen und Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina. Bitte lesen Sie Vischers Text. Sehen Sie etwas, das man ihm vorwerfen könnte? Etwas, das Anlass für eine gehässige Antwort gäbe? Ich nicht. An Vischers Text ist nichts Einseitiges, nichts speziell Israel-Feindliches oder speziell Hamas-Freundliches.
Aber: Vischer ist ein Linker, der sich Kritik an Israel erlaubt. Das geht für Thomas Meyer gar nicht. Schon der Lead zu seinem Text lässt Böses erahnen:
Der linke Antisemit ist sich nicht bewusst, dass er ein Antisemit ist. Er hält sich für einen guten und fairen Menschen.
Wer bitte ist «der linke Antisemit»? Keine Ahnung. Eine sinnlose Pauschalisierung zu Beginn macht sich offenbar gut.
Dann startet Meyer seinen Frontalangriff auf Vischer:
Der grüne Nationalrat Daniel Vischer war an dieser Stelle kürzlich aufgefordert, etwas zum linken Antisemitismus in der Schweiz zu sagen. Er sagte dazu Folgendes: Antisemitismus sei eine Angelegenheit «rechtsextremer Kreise». Dann ging er dazu über, das israelische Vorgehen in Gaza zu verurteilen. Diese Logik entspricht dem linken Antisemitismus: Man glaubt selbst immun gegen Rassismus zu sein und wettert gegen Israel, indem man zusammenhangslos Aspekte des Nahostkonflikts aufzählt, als wären es Argumente für oder gegen etwas.
«Wettern» gegen Israel ist für Meyer also schon Antisemitismus. Kein gutes Zeichen. Umso mehr, als Vischer weder wettert, noch zusammenhanglos Argumente aufzählt, sondern Israel ganz einfach für das kritisiert, für was man es kritisieren muss. Dasselbe macht er bezüglich Hamas.
Weiter gehts im endlosen Kanon der Pauschalisierungen:
Er [der linke Antisemit] vergleicht morgens in der Zeitung die Opferzahlen und glaubt dann, den Nahostkonflikt in dessen Komplexität erfasst zu haben und ein moralisches Urteil darüber fällen zu können.
Eine unfassbar arrogante Aussage. Vischer mag als Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina nicht ganz neutral sein. Aber er ist ein profunder Kenner des Nahost-Konflikts, weiss vielleicht sogar mehr darüber als Meyer selbst. Vischer eine derart plumpe Wahrnehmung vorzuwerfen, ist einfach nur böswillig. Zudem: Die Opferzahlen sind Ausdruck der einseitigen Machtverhältnisse im Nahen Osten und werfen zumindest die Frage nach der Verhältnismässigkeit der israelischen Reaktion auf.
Merkwürdigerweise kommen seine Tugenden nicht zum Einsatz, wenn es um die Kriege in Somalia, Mali und Nigeria geht (wo sind diese Länder überhaupt?). Auch nicht bei der Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten im Irak (wer sind die überhaupt?). Auch zum jugoslawischen Bürgerkrieg hatte er keine richtige Meinung.
Will heissen: Ein Linker, der nicht zu jedem aktuellen und ehemaligen Konflikt auf dieser Welt eine fundierte, dezidierte Meinung hat, darf auch zu Israel-Palästina nichts sagen. Gehts noch? Zudem: Selbstverständlich sind uns die Probleme in Nahost näher als Konflikte in Afrika. Wir sind mit Bibelgeschichten aufgewachsen, haben in der Schule alles über den 2. Weltkrieg gelernt, der Holocaust hat uns schockiert und geprägt wie kaum ein anderes Ereignis der Geschichte.
Was solls. Meyer kann einfach nicht aufhören mit seinem Nonsense:
Doch wenn «die Juden» – er macht keinen Unterschied zwischen Israelis und Juden – ihre Bomber starten, ruft er: «Die Juden machen mit den Palästinensern das Gleiche wie die Nazis einst mit ihnen!» Und hält sich mit diesem hirnrissigen Vergleich nicht nur für einen Geschichtsprofessor, sondern auch für einen Friedensapostel. Die Juden! Das Übel der Welt! Man kann es in der Zeitung lesen!
Ein Vorwurf, der in jedem solchen Text zu lesen ist: (Linke) Israelkritiker können einfach nicht zwischen Juden und Israelis unterscheiden. Was ausgekochter Blödsinn ist. Sorry, Herr Meyer, wir Linken sind im Schnitt nicht ganz so dumm, wie Sie uns gerne hätten. Der eine oder andere weiss sogar, wo Mali liegt.
Nächste Pauschalisierung gefällig? Et voilà:
Das ist der linke Antisemitismus: Der Glaube, die furchtbaren Dinge, die zwischen Palästinensern und Israelis geschehen, seien auf den furchtbaren Charakter der Juden zurückzuführen. Flammt der Nahostkonflikt wieder auf, redet der linke Antisemit nur noch von den Juden. Und beschimpft schliesslich jene in seiner eigenen Stadt.
«Linke beschimpfen Juden in der Stadt»? Ein unglaublicher Vorwurf. Um nicht zu sagen: allerunterste Schublade.
Verstehen Sie mich richtig: Ich heisse das israelische Vorgehen nicht gut. Es macht mich verzweifelt und traurig, dass Israels einzige Methode, mit den Palästinensern zu kommunizieren, brutale Gewalt zu sein scheint. Und dass die Israelis Eisentore vor ihre Herzen geschoben haben und keinen Funken Mitgefühl empfinden für ihre Nachbarn. Es herrscht nur noch Hass, bar jeglicher Vernunft und fernab jeglichen Willens zur Versöhnung.
Hoppla. Wieso dürfen Sie das sagen, Herr Meyer, aber Daniel Vischer nicht? Sie dürfen, weil Sie Jude sind? Vischer darf nicht, weil er «nur» ein Linker ist?
Höre ich die Menschen über «die Juden» reden – es muss dabei noch nicht einmal um den Nahostkonflikt gehen, wir sind auch in Friedenszeiten ein beliebtes Thema –, dann dringt ein solcher Hass aus ihren Worten, ein solch angeekeltes Befremden, dass ich am liebsten davonrennen würde. Woher kommt dieser Hass? Warum ist er so leicht zu wecken? Und warum ist er durch kein Argument zu besänftigen, sondern reibt sich sogar noch daran wie ein geiler Hund?
Die Antwort ist banal: Judenfeindlichkeit. Feindlichkeit überhaupt. Verschlossene Herzen. Persönliche Defizite im emotionalen Bereich.
Mittlerweise ist hier nicht mehr von den Linken, sondern gleich von «den Menschen» die Rede. Genau: Sie, Ihr Nachbar, ich, meine Freunde – alles Antisemiten. Unser «Hass reibt sich wie ein geiler Hund», wir haben «persönliche Defizite im emotionalen Bereich»? Ich habe selten einen grösseren, beleidigenderen Blödsinn gelesen.
Woher der Hass kommt, fragt Meyer. Ich weiss es nicht. Es gilt auf jeden Fall, Antisemitismus mit aller Bestimmtheit zu verurteilen und zu bekämpfen. Nur: Wenn einer wie Thomas Meyer, der sich Schriftsteller nennt, gegen pauschalen Hass anschreibt und dabei selber derart pauschalisiert und derart unter die Gürtellinie geht, leistet er seiner Sache einen Bärendienst.
Mir ist nicht klar, was Thomas Meyers Problem mit «den Linken» ist, aber es nimmt in seinem Text hässliche Züge an. Apropos Hass: Ich für meinen Teil kann nur sagen, ja, ich habe etwas gegen Juden, wenn sie Israel bedingungslos verteidigen. Ja, ich habe etwas gegen Moslems, wenn sie die Raketenangriffe der Hamas befürworten. Ja, ich habe etwas gegen US-Amerikaner, wenn sie Drohnenmorde richtig finden. Ja, ich habe etwas gegen Russen, wenn sie sich die Ukraine einverleiben wollen. Das, Herr Meyer, ist nicht Rassismus, sondern berechtigte Kritik. Diese Kritik muss möglich sein, auch von Linken, auch wenn es um Israel geht.
Endlich kommt Meyer zum Schluss:
Israel verhält sich falsch, das ist wahr. Aber wer sich genau dieses Land aussucht, um sich als Hüter der Moral und der Menschlichkeit aufzuspielen, der hat meines Erachtens genau in diesen beiden Punkten erheblichen Nachholbedarf. Denn nicht Israel ist das Problem, sondern das Verhalten der Menschheit generell.
Die Schlussfolgerung, nicht Israel sei das Problem, sondern «die Menschheit» generell, ist so unsäglich weit hergeholt und verallgemeinernd, dass sich jeder weitere Kommentar erübrigt.
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