Peter Hosslis Märchenstunde

Samstagmorgen, ich klicke auf die «Blick»-App und staune. Da steht, notabene als eine der Hauptschlagzeilen:

Clinton-Affäre, 9/11, Bushs Krieg, Obamas Rückzug, Islamischer Staat – oder warum es zur Flüchtlingskrise kam: Monica Lewinsky ist schuld

Der Lead von Autor Peter Hossli stimmt mich erwartungsfroh:

Um die Gegenwart zu verstehen, muss man die Vergangenheit kennen. Die aktuelle Flüchtlingskrise begann mit einer Pizza, gefolgt von Oralsex.

Cool, endlich mal wieder richtige Satire, denke ich mir. Leider stelle ich beim Weiterlesen schnell fest: Nein, das ist kein satirischer Text, das ist ernst gemeint – ernst gemeint, nicht lustig, voller Fehler und Märchen.

Peter Hossli schreibt:

Es war der Anfang einer Affäre, welche die Welt veränderte. Nachdem sie 1998 aufgeflogen war, beschäftigten sich die USA zwei Jahre nur mit Zigarren und der Frage, was Sex sei. Und Clinton hatte keine Zeit, sich mit Terrorfürst Osama Bin Laden und den Taliban in Afghanistan zu befassen.

Was nicht weiter von der Realität entfernt sein könnte. Offiziell sagt Clinton, er hätte Bin Laden töten können, es aber nicht getan, weil viele unbeteiligte Opfer zu beklagen gewesen wären (1). Das mag stimmen oder nicht. Aber: Zu behaupten, Clinton habe wegen seiner Lewinsky-Probleme aussenpolitisch komplett das Interesse verloren und sei inaktiv geblieben, ist einfach nur totaler Blödsinn. Zum Beispiel Wikipedia schreibt:

  • In der zweiten Amtszeit lag ein Schwerpunkt Clintons auf der internationalen Politik.
  • Im Nahostkonflikt versuchte Clinton weiterhin, zwischen Jassir Arafat und Ehud Barak zu vermitteln.
  • Clinton war massgeblich verantwortlich für den NATO-Einsatz im Kosovokrieg gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien
  • Nachdem das irakische Regime unter Saddam Hussein die UN-Waffeninspekteure im Herbst 1998 (…) des Landes verwiesen hatten, liess die Regierung Clinton im Dezember 1998 militärische Anlagen und vermutete Stellen zum Bau von Massenvernichtungswaffen bombardieren.
  • Und: Im August 1998 wurden Terroranschläge auf die Botschaften der Vereinigten Staaten in Daressalam und Nairobi verübt; dabei kamen 263 Menschen zu Tode und über 5000 wurden zum Teil schwer verletzt. Hinter den Anschlägen wurde schon damals Osama bin Laden vermutet. Clinton gab den Befehl, bin Laden unter allen Umständen auszuschalten. Der islamistische Terrorismus um bin Laden geriet also schon damals in den Fokus der amerikanischen Außenpolitik und nicht erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

Was solls! Weiter im Text:

Der damalige Vizepräsident Al Gore, ein kluger und besonnener Mann, galt als sicherer Erbe Clintons. Zumal die beiden die USA durch einen wirtschaftlichen Boom führten. Und der begnadete Wahlkämpfer Bill Clinton für Al Gore werben würde. Doch Gore verzichtete bewusst darauf, mied Clinton wie Graf Dracula das Tageslicht – wegen Lewinsky. Zuletzt unterlag Gore wegen 537 Stimmen in Florida und verpasste den Einzug ins Weisse Haus. Weil Clinton ihm nicht helfen durfte.

Das stimmt, ist aber alles andere als eine neue Erkenntnis.

Am 20. Januar 2001 wurde George W. Bush ins Präsidentenamt eingeführt. Er ignoriert Warnungen seiner Geheimdienste, Bin Laden plane einen Angriff auf die USA.

Das Datum stimmt, der Rest ist ein Märchen, das auch andere gerne verbreiten, weil sie sonst ihr 9/11-Bild überdenken müssten. Mittlerweile ist klar, dass

  • die USA konkrete Warnungen verschiedener Regierungen und Geheimdienste erhielten.
  • auch FBI und CIA den Attentätern auf der Spur waren und von höchster Stelle gestoppt wurden. (siehe Timeline von History Commons und 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8)

Kurz: Wer glaubt, die diversen Warnungen seien von den höchsten Stellen in den USA bloss ignoriert worden, der ist an Naivität nicht zu überbieten.

Auf eine Invasion in den Irak hätte er (Gore) aber vermutlich verzichtet. Bush aber umgab sich mit Leuten, die geradezu besessen waren von Saddams Sturz, etwa Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney. Er selbst wollte die Ehre seines Vaters retten. Präsident George H. W. Bush führte bereits 1991 Krieg gegen Saddam, liess ihn aber im Amt.

Wie kann ein Journalist mit all den Informationen (1, 2, 3), die heute zum Ursprung des Irakkriegs vorliegen, noch versuchen, uns weiszumachen, Bush, Rumsfeld und Cheney seien aus Rache- oder purer Kriegslust im Irak einmarschiert? Es ging und geht um Öl, um Geopolitik, es geht um endlosen Krieg, der dem übermächtigen militärisch-industriellen Komplex Milliardengewinne bringt (1).

Die USA inhaftierten Offiziere der irakischen Armee im Camp Bucca im Süden. Diese trafen dort auf den Islamisten Abu Bakr al-Baghdadi. Gemeinsam rekrutierten sie im Gefängnis Kämpfer und entwickelten die Vision des Islamischen Staats (IS). Von den Amerikanern unbemerkt entstand eine brutale Terrorbande.

Auch dieser Abschnitt ist Fiktion. Es ist mittlerweile ausreichend belegt, dass der Westen das Entstehen des IS nicht nur in Kauf genommen, sondern direkt gefördert hat. Dies zeigt zum Beispiel ein geheimes Pentagon-Papier, das die Plattform Judicial Watch veröffentlicht hat (1, 2, 3). Zu sagen, der IS sei unbemerkt entstanden, ist totaler Nonsense.

Ein Jahr darauf erhielt der (Obama) den Friedensnobelpreis, was ihn aber lähmte.

Abstruser gehts nicht mehr. Lähmte der Friedensnobelpreis Obama so stark, dass er deswegen

  • bis heute 7 Länder bombardieren (1),
  • das Drohnenprogramm von George W. Bush massiv ausbauen (1),
  • die Anstrengungen zur Schliessung Guantanamos auf Sparflamme setzen (1, 2),
  • den Kampf gegen Whistleblower drastisch verschärfen (1)
  • und die juristische Aufarbeitung der CIA-Folterpraktiken einstellen musste (1)?

Armer gelähmter Barack Obama … Noch schlimmer geht es seinen «Feinden» – die meisten sind inzwischen tot.

Bis heute gelang es Obama nicht, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden, bis heute lässt er sich vom syrischen Diktator Bashar al-Assad zum Narren halten.

Das ist, zumindest, eine arge Vereinfachung der Situation. Was auch immer Obamas Absichten in Syrien sind – selbst wenn er wollte, könnte er den Bürgerkrieg nicht einfach so beenden. Zu viele Lager mischen mit, zu viele internationale Interessen sind offensichtlich betroffen.

Zum Schluss beglückt uns Hossli mit einer Brüller-Pointe:

Bloss 100’000 Flüchtlinge nehmen die USA auf, obwohl der Irakkrieg treibender Faktor der Krise war. Den hätte es kaum gegeben, hätte Clinton 1995 nicht mit Lewinsky angebandelt. Die Praktikantin hätte ihm besser den Marsch geblasen.

Sehr witzig … Im Ernst, was Peter Hossli mit seinem Lewinsky-Text abliefert, ist im besten Fall eine Märchenstunde, die zeigt, auf welchem Informationsstand sich die meisten Journalisten bewegen. Im schlechtesten Fall ist es Geschichtsklitterung und Irreführung der Leser.

Hossli hat weder auf Twitter noch auf Facebook auf die zum Teil bösen Rückmeldungen zu seinem Artikel reagiert. Wen wunderts. Auf seiner Website beschreibt sich Hossli zwar als «a curious reporter who always finds a good story». Wenigstens in diesem Fall war er aber weder neugierig, noch fand er eine gute Story – bestenfalls erfand er sie. Oder, um auf dem Pointen-Niveau zu bleiben: Dieser Text ging gründlich in die Hossli.

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