Was ist falsch an Philipp Sarasin?

Ich habe geschichtedergegenwart.ch meine Replik auf Philippe Wampflers Verschwörungstheoretiker-Text zur Publikation angeboten. Historiker Philipp Sarasin lehnte ab. Seine Begründung:

(…)

Wir bzw. ich habe mich in einem früheren Beitrag dezidiert zu Verschwörungstheorien geäussert. Wir sehen keinen Grund, auf diese Diskussion zurückzukommen.

Sarasin bezeichnet also einen eigenen Text als abschliessende Meinung zu einem Thema, das Menschen und Medien derzeit stark beschäftigt – Diskussion unerwünscht. Grund genug, diesen Text im Detail anzuschauen, auch wenn er bereits ein Jahr alt ist. Das Resultat: In «Was ist falsch an Verschwörungstheorien?» präsentiert uns Sarasin Pauschalisierungen und logische Fehlschlüsse zuhauf. Zudem verharmlost er staatliche Verbrechen. Sein Text ist exemplarisch für all den Anti-Verschwörungsbrei, den wir derzeit auf vielen Kanälen vorgesetzt erhalten.

Die Frage drängt sich auf: Was ist falsch an Philipp Sarasin?

Ein Buch und ein Podium

Ich erinnere mich gut an Sarasin. 2005 sass ich mit ihm, mit Daniele Ganser und mit WOZ-Redaktor Daniel Stern auf einem Podium in der Roten Fabrik in Zürich. Das Thema: 9/11. Sarasin vermied es zwar, allzu konkret zu werden, vermittelte aber deutlich: Die 9/11-Welt ist komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint.

Kein Wunder: Sarasin hatte zu 9/11 bzw. zum Nachgang der Anschläge recherchiert. Rund ein Jahr vor dem Podium hatte er sein Buch «‹Anthrax›. Bioterror als Phantasma» veröffentlicht. Der Klappentext:

Unmittelbar nachdem am 11. September 2001 die beiden Flugzeuge in das World Trade Center geflogen waren, schluckten Präsident Bush und das Personal des Weißen Hauses das Anthrax-Antibiotikum Cipro. Eine Woche nach den Anschlägen tauchten fünf anonyme Briefe mit getrockneten Anthrax-Sporen auf, die fünf Todesopfer forderten. Anthrax und die Anschläge schienen in einem Zusammenhang zu stehen. Den fünf echten Briefen folgten mehrere tausend falsche und der Anschlag erwies sich nicht als «Bioterror». Philipp Sarasin entfaltet in seinem Essay die verwickelte Geschichte dieser Briefe und zeigt, wie aus den wenigen echten Anthrax-Briefen die Metapher «Anthrax» wird, die auf ähnliche Weise gefährlich und infektiös wirkt – bis hin zum Einmarschbefehl in den Irak.

In seiner Buchbesprechung in der NZZ schrieb Uwe Justus Wenzel:

Die «kriminologischen Spekulationen» darüber wolle er anderen überlassen, schreibt Sarasin an einer Stelle. Dennoch – die Infektion war wohl nicht zu verhindern – beteiligt auch er sich einige Seiten später an derlei Mutmassungen. Dem Spürsinn des kulturwissenschaftlichen Privatdetektivs erscheinen nur zwei der seither diskutierten Möglichkeiten plausibel.

(…)

Entweder, lautet der Verdacht, sei es jemand gewesen, der aus eigenem Antrieb seiner Regierung ein willkommenes Geschenk gemacht habe, oder jemand, der sich als «Lohnschreiber» verdingt habe, der also höheren Orts beauftragt worden sei.

Das muss nicht eo ipso Humbug sein. Nicht jede «Verschwörungstheorie» ist Stuss.

Letzteres sieht Sarasin mittlerweile anders, wie sein Text auf geschichtedergegenwart.ch zeigt. Er, der vor 14 Jahren bezüglich der 9/11-Nachwehen kritisch Stellung bezog, der sich in seinem Buch sogar zu Spekulationen hinreissen liess – z.B. zum Verdacht, die US-Regierung habe die Anthrax-Briefe selbst verschickt –, verurteilt heute jede Form der theoretischen Spekulation aufs Schärfste. Ob Fachmann oder Laie, ob ehrlich bemühter Forscher oder Spinner, alle landen bei Sarasin im gleichen Topf.

Was ist seit 2004 passiert? Klar ist: Sarasin bekam nach seinem Anthrax-Buch zu spüren, was es heisst, sich in Sachen 9/11 zu exponieren. Vereinzelt wurde er gar als Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Zudem dürfte ihm das Beispiel Daniele Gansers, der aufgrund seiner Äusserungen zu 9/11 an der ETH, der Uni Zürich und der Uni Basel in Ungnade fiel, eine deutliche Warnung gewesen sein.

Eines Wissenschaftlers unwürdig

Wie auch immer: Sarasins Text auf geschichtedergegenwart.ch ist eines Historikers bzw. Wissenschaftlers unwürdig. Bereits der Titel «Was ist falsch an Verschwörungstheorien?» ist ein Logikfehler. Denn: Eine Theorie erweist sich irgendwann als richtig oder falsch. Grundsätzlich bzw. von vornherein falsch sein kann sie nicht, ebenso wenig wie es falsch sein kann, Theorien zu entwickeln, solange man festhält, dass es sich um Theorien handelt.

In der Wissenschaft kennt man den Begriff Heuristik. Laut Wikipedia bezeichnet Heuristik …

die Kunst, mit begrenztem Wissen (unvollständigen Informationen) und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen. Es bezeichnet ein analytisches Vorgehen, bei dem mit begrenztem Wissen über ein System mit Hilfe mutmaßender Schlussfolgerungen Aussagen über das System getroffen werden.

Ein heuristischer Ansatz ist also dazu prädestiniert, Darstellungen, zu denen unvollständige Informationen vorliegen, auf ihre Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Versuch und Irrtum (trial and error) nennt sich das, auch in der Wissenschaft. Leider erklärt Sarasin in seinem Text nicht, wann Theorien bzw. Kritik bzw. Fragen den Trial-and-error-Bereich verlassen. Er erklärt nicht, wann eine Theorie es verdient, mit dem Zusatz «Verschwörung» herabgestuft zu werden. Er erklärt nicht, weshalb die eine Frage als kritische Grundhaltung gelten darf, die andere Frage aber eine Verschwörungstheorie ist.

Sarasin zieht es vor, zu pauschalisieren. Im Lead schreibt er:

Wurden die Twin Towers gesprengt? Beherrschen die Juden die Welt? Werden wir durch Chemtrails vergiftet? Das Internet ist voll von solchen «Fragen» und Behauptungen, die große Resonanz finden. Was ist so grundfalsch an ihnen? Ein Klärungsversuch.

Sarasin bedient sich hier einer bewährten Diffamierungsmethode, die er im Text immer wieder einsetzt: Man nenne eine berechtigte Frage (Twin Towers) im gleichen Atemzug mit blödsinnigen Fragen und bringe so die berechtige Frage auf das Niveau des Blödsinns.

Gleich im ersten Abschnitt führt Sarasin den Titel seines Texts ad absurdum. Er schreibt:

Es wäre naiv anzu­nehmen, wir würden in einer Welt leben, in der es keine Verschwö­rungen gibt.

(…)

Verschwö­rungen sind, mit einem Wort, das Gegen­teil von öffent­li­chen bzw. demo­kra­tisch legi­ti­mierten Entschei­dungen, auch das Gegen­teil von rechts­staat­li­chen Verfahren. Die Geschichte kennt genü­gend Beispiele von erfolg­rei­chen ebenso wie von geschei­terten Verschwö­rungen. Darüber muss man nicht lange debat­tieren.

Nun liegt es aller­dings in der Natur der Sache, dass Verschwö­rungen immer erst nach­träg­lich bekannt werden (und auch das nicht immer). Niemand und nichts garan­tiert daher, dass nicht gerade jetzt irgendwo eine Verschwö­rung im Gange sein könnte, dass nicht in einem Hinter­zimmer fins­tere Pläne gefasst und böse Absichten beschworen werden.

Interessant. Der Leser fragt sich: Weshalb sollte man also nicht über mögliche Verschwörungen debattieren? Weshalb sollte man nicht forschen und dazu beitragen, dass Verschwörungen rechtzeitig aufgedeckt werden? Weshalb sollten Theorien grundsätzlich und von vornherein falsch sein?

Sarasin kennt die Antwort nicht. Er wechselt deshalb das Thema:

Die zumin­dest rela­tive Offen­heit poli­ti­scher Aushand­lungs- und Entschei­dungs­pro­zesse in demo­kra­ti­schen Staaten ist, mit anderen Worten, grund­sätz­lich keine Absi­che­rung gegen den Verdacht, ja über­haupt gegen die Möglich­keit ihres dunklen Gegen­teils. Man kann nie wissen… – und plötz­lich wird das vergleichs­weise banale Wissen, dass es immer wieder unter­schied­lichste Verschwö­rungen gab, vom para­noiden Wahn über­tönt und verdrängt, dass dunkle Mächte unsere Welt regieren. Wie funk­tio­niert dieser Über­gang?

Banal, aber richtig: Es gab und gibt Verschwörungen. Auch richtig ist: «Dieser Übergang» ist bei vielen (aber längst nicht bei allen) zu beobachten, die sich mit alternativen Ansichten zu Grossereignissen befassen. Spannend wäre deshalb zu untersuchen, wie «dieser Übergang» funktioniert bzw. wann eine gesunde, kritische Grundhaltung in Paranoia umschlägt.

Selbstverständlich liefert uns Sarasin auch diesbezüglich keine Antwort. Stattdessen folgt ein historischer Rückblick:

Dennoch lässt sich sagen, dass im 20. Jahr­hun­dert und bis heute Verschwö­rungs­theo­rien gehäuft bei auto­ri­tären Regimen und aggressiv anti­de­mo­kra­ti­schen «Bewe­gungen» auftraten.

Die Natio­nal­so­zia­listen haben ihren Weg zur Macht mit Verschwö­rungs­theo­rien gepflas­tert; die wahr­schein­lich am Anfang des 20. Jh. in Russ­land entstan­denen soge­nannten «Proto­kolle der Weisen von Zion» lieferten dabei das Script für alle nach­fol­genden anti­se­mi­ti­schen Verschwö­rungs­theo­rien bis heute. Tota­li­täre Regime wie etwa jenes Stalins in der Sowjet­union oder werdende auto­ri­täre Systeme wie dasje­nige Erdoğans versuchten und versu­chen syste­ma­tisch, ihre Macht durch das immer wieder insze­nierte «Aufde­cken» von Verschwö­rungen zu stabi­li­sieren.

Laut Sarasin sind es also oft die Mächtigen bzw. die Regierungen, die Verschwörungstheorien verbreiten und damit grauenhafte Verbrechen rechtfertigen. Daraus kann jeder kritische Geist eigentlich nur schliessen: Leute, hinterfragt offizielle Verlautbarungen, lauft Regierungen nicht blindlings hinterher.

Sarasin konzentriert sich lieber auf Anderes. Denn da gibt es eine offenbar wichtigere und gefährlichere Art von Verschwörungstheorien:

Etwas anders funk­tio­niert jene Vari­ante von Verschwö­rungs­theo­rien, die in demo­kra­ti­schen Systemen auftreten, vor allem dann, wenn das Vertrauen in die Legi­ti­mität ihrer poli­ti­schen Verfahren am Schwinden ist. Das sind Situa­tionen, in denen die gesell­schaft­liche Wirk­lich­keit noch komplexer erscheint, als sie in einem imagi­nären «Früher» gewesen sein soll, Situa­tionen, in welchen die wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Prozesse noch schwerer zu durch­schauen seien als angeb­lich zuvor, und der Wandel der Verhält­nisse als so sehr beschleu­nigt erscheint, dass es nicht mehr rechten Dingen zugehen könne. Dem Willen des «Volkes» jeden­falls scheinen sie nicht mehr zu entspre­chen.

Man wird den Verdacht nicht los: Sarasin formuliert so kompliziert als möglich, um zu zeigen, was er draufhat. Sagen will er uns wohl: Weil wir heute sogar in demokratischen Strukturen mit der komplexer werdenden Welt zunehmend überfordert sind, neigen wir zu Verschwörungstheorien. Nur: Der Ursprung vieler grosser Verschwörungstheorien – die Juden beherrschen die Welt, Mondlandung, Kennedy-Mord – liegt in einer Zeit, als die Welt noch vergleichsweise simpel war. Quasi zur Veranschaulichung, wie falsch seine Aussage ist, platziert Sarasin neben diesen Textabschnitt das Bild eines Mannes, der glaubt, die CIA habe John Lennon getötet – also auch eine Theorie von früher.

Plumpe Psychoanalyse

Dann bringt Sarasin jene plumpe (und falsche) Psychoanalyse, die sich in jedem Anti-Verschwörungstext findet:

In solchen als krisen­haft empfun­denen Situa­tionen bieten Verschwö­rungs­theo­rien einfache, scheinbar einleuch­tende Erklä­rungen. Sie postu­lieren handelnde, agie­rende Subjekte hinter anonymen Prozessen – und sie ermög­li­chen daher, Verant­wort­liche, ja Schul­dige zu adres­sieren. Sie behaupten das Vorhan­den­sein eines Planes, der die verwir­renden Verhält­nisse zu entwirren und die «eigent­li­chen», die «verbor­genen» Zusam­men­hänge zu erklären scheint. Der «Plan» und die mit ihm asso­zi­ierten «Verschwörer» bilden ein erklä­rendes Zentrum für dispa­rate Phäno­mene, er sugge­riert Einsicht, Verstehen, ja Durch­schauen der Verhält­nisse.

Leider ist genau das Gegenteil der Fall. Für alle grösseren politisch relevanten Ereignisse der letzten hundert Jahre, die zu Verschwörungstheorien geführt haben, wurden uns von offizieller Seite «einfache, scheinbar einleuch­tende Erklä­rungen» präsentiert und «handelnde, agie­rende Subjekte hinter anonymen Prozessen postuliert». Das «ermöglicht, Verantwortliche, ja Schuldige zu adressieren». Kurz: Die offiziellen Verlautbarungen sind auf genau jene Bedürfnisse ausgelegt, für deren Befriedigung laut Sarasin Verschwörungstheorien nötig sind.

Anders gesagt: Wer vermutet, hinter dem Mord an Kennedy oder hinter 9/11 könnte mehr stecken als ein paar ideologisierte Spinner, wer Anzeichen dafür sieht, dass hier ein Mix aus Wirtschaft, Militär und Geheimdiensten am Werk war, hat definitiv das komplexere Weltbild, als jemand, der an durch und durch ehrliche Regierungen/Geheimdienste auf der einen Seite und extremistische Spinner auf der anderen Seite glaubt.

Aber egal, ob das, was man (ab)schreibt, Hand und Fuss hat – Hauptsache, es tönt abgehoben. So wie bei Sarasin:

Es liegt viel­mehr in der Logik der Verschwö­rungs­theorie, dass sie in der Regel eben keine «Theorie» sein will, kein abstraktes Gedan­ken­ge­bäude, und dass sie nur in ihren offen para­noiden Erschei­nungs­formen die Verschwörer und ihren Plan explizit benennt. Oft ist daher die Form der Verschwö­rungs­theorie die gegen alle Evidenz immer wieder gestellte «Frage», die obsessiv vorge­tra­gene Vermu­tung, der durch nichts wider­leg­bare Verdacht.

Diesbezüglich hat Sarasin recht: «Fragen» zur jüdischen Weltverschwörung oder zu Reptiloiden sind nicht zu widerlegen. Aber: Sollte sich ein Historiker tatsächlich um derartigen Stumpfsinn kümmern? Sollte sich ein Historiker nicht um reale Ereignisse und ihre Einordnung kümmern?

Sarasin macht lieber das, was der typische Anti-Verschwörungstheoretiker tut: Er wirft alle und alles in einen Topf. Er schafft es nicht, zwischen Kritik an offiziellen Darstellungen (JFK, 9/11, Mondlandung usw.) und Theorien zu Hirngespinsten (jüdische Weltverschwörung, Chemtrails, Reptiloiden, flache Erde usw.) zu unterscheiden.

Dazu kommen, garniert durch den Anspruch auf Wissen­schaft­lich­keit, regel­mäßig ein paar Schein-Evidenzen, die bescheiden damit sich begnügen, noch keine «umfas­sende» Erklä­rung zu sein.

«Schein-Evidenzen»: Das mag für vieles stimmen, für anderes ist es schlicht falsch. Ist z.B. die Erkenntnis, dass die offizielle 9/11-Darstellung in weiten Teilen auf Folteraussagen beruht, tatsächlich eine «Schein-Evidenz»? Ist die Tatsache, dass der offizielle 9/11-Report nie eine Peer-Review gesehen hat und kein rechtsstaatliches Verfahren überstehen würde, eine «Schein-Evidenz»?

«Keine umfassende Erklärung»: Muss ich, wenn ich eine offizielle Darstellung kritisiere, gleich eine Erklärung mitliefern, wie es denn wirklich war? Wohl kaum, denn das wäre dann tatsächliche eine Verschwörungstheorie.

Dumm und gefährlich

Je weiter man in Sarasins Text vorstösst, desto abstruser wird es:

Mit diesen als Fragen getarnten Vermu­tungen dringen Behaup­tungen und poli­ti­sche Vorur­teile in den öffent­li­chen Raum ein, die sich in einer offenen Debatte nicht legi­ti­mieren ließen.

Will Sarasin damit sagen, dass bei uns keine offene Debatte geführt werden kann? Versteht Sarasin unter «offener Debatte» eine Diskussion, deren Themenspektrum er selbst vorgibt? Meines Wissens darf in der Schweiz nach geltendem Recht zu allem eine offene Debatte geführt werden, solange die Inhalte nicht rassistisch oder anderweitig diskriminierend sind. Eine offene Debatte ist also nur dann eingeschränkt, wenn Leute wie Sarasin oder Wampfler Denkverbote aussprechen.

«Als Fragen getarnte Vermu­tungen»: Der Standardvorwurf, den alle Anti-Verschwörer den «Verschwörungstheoretikern» machen. Eine Unterstellung, mit der auch ich immer wieder konfrontiert werde. Tatsache ist: Ich habe meine Kritik an der offiziellen 9/11-Darstellung im Detail dargelegt. Viele andere haben ihre Kritik an 9/11 und anderen prüfenswerten Ereignissen im Detail dargelegt.

Statt sich dieser Kritik zu widmen und sie nötigenfalls zu widerlegen, bleibt Sarasin wie alle anderen Anti-Verschwörer auf der Meta-Ebene:

Der Verschwö­rungs­theo­re­tiker konstru­iert im Grunde einen diskur­siven Ausnah­me­zu­stand: Nur weil ein «Notstand» zu benennen sei, der in der «Lügen­presse» nicht benannt werde, und nur, weil auf eine «Kata­strophe» hinge­wiesen werden müsse, die unter den Teppich gekehrt werde, fühlt sich der Verschwö­rungs­theo­re­tiker dazu ermäch­tigt, nun doch den Verdacht – die bloße Frage! – zu äußern, ob nicht doch «die Juden» das Banken­system mani­pu­lieren, ob nicht doch die CIA eine so fins­tere Macht sei, dass sie 9/11 insze­niert habe, ob nicht doch die Mäch­tigen in Brüssel wirk­lich die euro­päi­schen Völker durch die «unge­bremste» Migra­tion zerstören wollen, oder ob wir nicht doch alle durch «Chem­trails» vergiftet werden …

Spätestens hier ist Sarasins Text nicht mehr nur ärgerlich, sondern dumm und gefährlich: Er stellt Leute, die die CIA für eine «finstere Macht» halten, auf die gleiche Ebene wie rechte Spinner, die Flüchtlinge als gezielte Destabilisierung Europas sehen. Sarasin verharmlost damit die Verbrechen der CIA gegen Menschen und gegen das Völkerrecht. Als Historiker müsste Sarasin wissen, dass die CIA foltert, mordet, immer wieder an Staatsstreichen beteiligt war und ist. Hunderttausende Tote sind ihr direkt oder indirekt anzulasten (1, 2, 3, 4).

Was solls: Sarasin wiederholt sein pauschales Mantra («nur Fragen stellen») in unzähligen Formen. Über mehrere Abschnitte schreibt er immer wieder das Gleiche in anderen Worten:

Und schließ­lich bieten Verschwö­rungs­theo­rien auch noch in der Form bloßer «Fragen» ihren Anhän­gern ein Maß an Trost, das die begrenz­teren, hypo­the­ti­scheren, beschei­de­neren Vermu­tungen und Theo­rien über die verwir­renden Dinge in der Welt nicht zu bieten vermögen. Sie sugge­rieren die beru­hi­gende Gewiss­heit, dass auch die schreck­lichsten Dinge nichtzufällig geschehen, dass, mit andern Worten, die Verhält­nisse und Ereig­nisse, denen wir alle ausge­setzt sind, in keinem Fall als eine unglück­liche Verket­tung von kontin­genten Umständen, gar als nicht-inten­dierter side-effect von nicht einmal mitein­ander korre­lierten Entwick­lungen zu deuten sind.

Noch einmal das Gleiche in anderen Worten:

Die Anony­mität der Markt­pro­zesse, die vom Einzelnen abstra­hie­rende Logik büro­kra­ti­scher Prozesse, die Gewalt geopo­li­ti­scher Macht­kon­flikte und das Unge­steu­erte des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hangs können tatsäch­lich als bedrü­ckend, ja als Leid verur­sa­chend erfahren werden. Ange­sichts solcher Leider­fah­rungen und Bedrü­ckungen verspricht die Verschwö­rungs­theorie den Trost einer Deutung

Nonsense im Quadrat: Kriege oder Terroranschläge passieren nie zufällig – egal, wer an ihrem Ursprung steht. Gleiches gilt für politische Prozesse, die das Gefälle innerhalb der Gesellschaft vergrössern – sie sind gewollt und werden von jenen Kreisen, die profitieren, vorangetrieben.

Und nein, es bringt mir keinen Trost, keine beruhigende Gewissheit, zu befürchten, dass 9/11 mehr als das Werk islamistischer Spinner sein könnte. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Vorstellung einer Welt, die sich in Gut und Böse teilen lässt bzw. in der wir die Guten sind, ist wesentlich beruhigender als der Gedanke, dass wir von demokratisch gewählten Regierungen betrogen werden könnten.

Mit Nonsense geht es weiter:

Verschwö­rungs­theo­re­tiker imagi­nieren diese steu­ernde Macht wider alle Evidenz, ihr ganzes Denken kreist um sie. Ist es daher nicht genau diese Form der Macht, die sie begehren? Verschwö­rungs­theo­re­tiker stehen jeden­falls in der Regel poli­tisch nicht zufällig auf der Seite auto­ri­tärer Herr­schaft. Denn sie wünschen sich eine Auto­rität herbei, die dem Chaos der Wirk­lich­keit einen ordnenden Plan entge­gen­setzt.

Ich begehre die Macht, weil ich 9/11 hinterfrage? Ich stehe auf der Seite autoritärer Herrscher, weil ich finde, dass ein 3000-facher Mord, der mehrere Kriege nach sich gezogen hat, sauber aufgeklärt gehört? Abstruser gehts nicht mehr.

Endlich kommen wir zum Ende des Texts:

Dies und der unüber­seh­bare Zug ins Para­noide, der jeder Verschwö­rungs­theorie anhaftet, tragen nicht dazu bei, die gesell­schaft­li­chen Krisen zu bewäl­tigen, auf die sie zu reagieren scheint. Verschwö­rungs­theo­rien haben viel­mehr den Effekt, Verwir­rung zu stiften. Sie verbiegen den Raum des rational Sagbaren, sie fachen den Hass auf Fremde bzw. «Andere» an, fördern das Miss­trauen gegen­über den Medien, verbreiten Irra­tio­na­lismus und unter­mi­nieren die Demo­kratie. Und man muss nicht bis ins Mittel­alter oder in die Frühe Neuzeit zurück­gehen, um zu sehen, dass ihre Tendenz, für alle Übel der Welt bestimmte Gruppen verant­wort­lich zu machen, im Pogrom enden kann.

Richtig: Es ist falsch, bestimmte Gruppen für alles Übel verantwortlich zu machen. Aber: Weshalb macht Sarasin genau das mit den «Verschwörungstheoretikern»? Weshalb wirft er alle in einen Topf, weshalb differenziert er nicht?

Richtig: Es wäre sinnvoll gewesen, die offiziellen Verlautbarungen von Nazi-Deutschland rechtzeitig zu hinterfragen. Es hätte möglicherweise Millionen von Menschenleben gerettet, wenn sich mehr Leute rechtzeitig gegen das Bild des für alle Übel verantwortlichen Juden gewehrt hätten. Aber: Weshalb hinterfragt Sarasin die Verlautbarungen der US-Regierung im Fall 9/11 nicht (mehr)? Es wäre auch in jüngster Zeit sinnvoll gewesen, sich gegen ein Land zu wehren, dass uns eine Religionsgemeinschaft als Feind verkauft. Vielleicht hätte damit der Pogrom an Moslems verhindert werden können. Ein Pogrom, der notabene nach wie vor im Gang ist und bereits weit über eine Million Tote gefordert hat.

Was also ist falsch an Philipp Sarasin? Er übt sich in Psychologie, statt seiner Aufgabe als Historiker nachzukommen. Letztere befassen sich normalerweise mit  Geschichte, sie prüfen, ordnen ein und suchen dort nach Klarheit, wo Kritik begründet zu sein scheint. Das Psychologisieren überlassen sie den Psychologen.

Gerade, wenn es um heikle Themen und Verschwörungstheorien geht, ist Differenzierung das A und O – denn Kritik ist nicht gleich Kritik, Frage ist nicht gleich Frage. Demokratie und Wissenschaft leben davon, dass gezweifelt und hinterfragt wird, dass Menschen kritisch sind und ihre Bedenken äussern können, ohne die Folgen fürchten zu müssen. Wissenschaftler wie Sarasin oder Wampfler tragen mit ihren Rundumschlägen, mit ihrer pauschalen Hexenjagd dazu bei, dass in der Schweiz bestimmte Themen nicht mehr offen diskutiert werden können. Damit leisten sie den Werten der Aufklärung einen Bärendienst.

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