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Was ist falsch an Philipp Sarasin?
Ich habe geschichtedergegenwart.ch meine Replik auf Philippe Wampflers Verschwörungstheoretiker-Text zur Publikation angeboten. Historiker Philipp Sarasin lehnte ab. Seine Begründung:
Sarasin bezeichnet also einen eigenen Text als abschliessende Meinung zu einem Thema, das Menschen und Medien derzeit stark beschäftigt – Diskussion unerwünscht. Grund genug, diesen Text im Detail anzuschauen, auch wenn er bereits ein Jahr alt ist. Das Resultat: In «Was ist falsch an Verschwörungstheorien?» präsentiert uns Sarasin Pauschalisierungen und logische Fehlschlüsse zuhauf. Zudem verharmlost er staatliche Verbrechen. Sein Text ist exemplarisch für all den Anti-Verschwörungsbrei, den wir derzeit auf vielen Kanälen vorgesetzt erhalten.
Die Frage drängt sich auf: Was ist falsch an Philipp Sarasin?
Ein Buch und ein Podium
Ich erinnere mich gut an Sarasin. 2005 sass ich mit ihm, mit Daniele Ganser und mit WOZ-Redaktor Daniel Stern auf einem Podium in der Roten Fabrik in Zürich. Das Thema: 9/11. Sarasin vermied es zwar, allzu konkret zu werden, vermittelte aber deutlich: Die 9/11-Welt ist komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint.
Kein Wunder: Sarasin hatte zu 9/11 bzw. zum Nachgang der Anschläge recherchiert. Rund ein Jahr vor dem Podium hatte er sein Buch «‹Anthrax›. Bioterror als Phantasma» veröffentlicht. Der Klappentext:
In seiner Buchbesprechung in der NZZ schrieb Uwe Justus Wenzel:
Letzteres sieht Sarasin mittlerweile anders, wie sein Text auf geschichtedergegenwart.ch zeigt. Er, der vor 14 Jahren bezüglich der 9/11-Nachwehen kritisch Stellung bezog, der sich in seinem Buch sogar zu Spekulationen hinreissen liess – z.B. zum Verdacht, die US-Regierung habe die Anthrax-Briefe selbst verschickt –, verurteilt heute jede Form der theoretischen Spekulation aufs Schärfste. Ob Fachmann oder Laie, ob ehrlich bemühter Forscher oder Spinner, alle landen bei Sarasin im gleichen Topf.
Was ist seit 2004 passiert? Klar ist: Sarasin bekam nach seinem Anthrax-Buch zu spüren, was es heisst, sich in Sachen 9/11 zu exponieren. Vereinzelt wurde er gar als Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Zudem dürfte ihm das Beispiel Daniele Gansers, der aufgrund seiner Äusserungen zu 9/11 an der ETH, der Uni Zürich und der Uni Basel in Ungnade fiel, eine deutliche Warnung gewesen sein.
Eines Wissenschaftlers unwürdig
Wie auch immer: Sarasins Text auf geschichtedergegenwart.ch ist eines Historikers bzw. Wissenschaftlers unwürdig. Bereits der Titel «Was ist falsch an Verschwörungstheorien?» ist ein Logikfehler. Denn: Eine Theorie erweist sich irgendwann als richtig oder falsch. Grundsätzlich bzw. von vornherein falsch sein kann sie nicht, ebenso wenig wie es falsch sein kann, Theorien zu entwickeln, solange man festhält, dass es sich um Theorien handelt.
In der Wissenschaft kennt man den Begriff Heuristik. Laut Wikipedia bezeichnet Heuristik …
Ein heuristischer Ansatz ist also dazu prädestiniert, Darstellungen, zu denen unvollständige Informationen vorliegen, auf ihre Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Versuch und Irrtum (trial and error) nennt sich das, auch in der Wissenschaft. Leider erklärt Sarasin in seinem Text nicht, wann Theorien bzw. Kritik bzw. Fragen den Trial-and-error-Bereich verlassen. Er erklärt nicht, wann eine Theorie es verdient, mit dem Zusatz «Verschwörung» herabgestuft zu werden. Er erklärt nicht, weshalb die eine Frage als kritische Grundhaltung gelten darf, die andere Frage aber eine Verschwörungstheorie ist.
Sarasin zieht es vor, zu pauschalisieren. Im Lead schreibt er:
Sarasin bedient sich hier einer bewährten Diffamierungsmethode, die er im Text immer wieder einsetzt: Man nenne eine berechtigte Frage (Twin Towers) im gleichen Atemzug mit blödsinnigen Fragen und bringe so die berechtige Frage auf das Niveau des Blödsinns.
Gleich im ersten Abschnitt führt Sarasin den Titel seines Texts ad absurdum. Er schreibt:
Interessant. Der Leser fragt sich: Weshalb sollte man also nicht über mögliche Verschwörungen debattieren? Weshalb sollte man nicht forschen und dazu beitragen, dass Verschwörungen rechtzeitig aufgedeckt werden? Weshalb sollten Theorien grundsätzlich und von vornherein falsch sein?
Sarasin kennt die Antwort nicht. Er wechselt deshalb das Thema:
Banal, aber richtig: Es gab und gibt Verschwörungen. Auch richtig ist: «Dieser Übergang» ist bei vielen (aber längst nicht bei allen) zu beobachten, die sich mit alternativen Ansichten zu Grossereignissen befassen. Spannend wäre deshalb zu untersuchen, wie «dieser Übergang» funktioniert bzw. wann eine gesunde, kritische Grundhaltung in Paranoia umschlägt.
Selbstverständlich liefert uns Sarasin auch diesbezüglich keine Antwort. Stattdessen folgt ein historischer Rückblick:
Laut Sarasin sind es also oft die Mächtigen bzw. die Regierungen, die Verschwörungstheorien verbreiten und damit grauenhafte Verbrechen rechtfertigen. Daraus kann jeder kritische Geist eigentlich nur schliessen: Leute, hinterfragt offizielle Verlautbarungen, lauft Regierungen nicht blindlings hinterher.
Sarasin konzentriert sich lieber auf Anderes. Denn da gibt es eine offenbar wichtigere und gefährlichere Art von Verschwörungstheorien:
Man wird den Verdacht nicht los: Sarasin formuliert so kompliziert als möglich, um zu zeigen, was er draufhat. Sagen will er uns wohl: Weil wir heute sogar in demokratischen Strukturen mit der komplexer werdenden Welt zunehmend überfordert sind, neigen wir zu Verschwörungstheorien. Nur: Der Ursprung vieler grosser Verschwörungstheorien – die Juden beherrschen die Welt, Mondlandung, Kennedy-Mord – liegt in einer Zeit, als die Welt noch vergleichsweise simpel war. Quasi zur Veranschaulichung, wie falsch seine Aussage ist, platziert Sarasin neben diesen Textabschnitt das Bild eines Mannes, der glaubt, die CIA habe John Lennon getötet – also auch eine Theorie von früher.
Plumpe Psychoanalyse
Dann bringt Sarasin jene plumpe (und falsche) Psychoanalyse, die sich in jedem Anti-Verschwörungstext findet:
Leider ist genau das Gegenteil der Fall. Für alle grösseren politisch relevanten Ereignisse der letzten hundert Jahre, die zu Verschwörungstheorien geführt haben, wurden uns von offizieller Seite «einfache, scheinbar einleuchtende Erklärungen» präsentiert und «handelnde, agierende Subjekte hinter anonymen Prozessen postuliert». Das «ermöglicht, Verantwortliche, ja Schuldige zu adressieren». Kurz: Die offiziellen Verlautbarungen sind auf genau jene Bedürfnisse ausgelegt, für deren Befriedigung laut Sarasin Verschwörungstheorien nötig sind.
Anders gesagt: Wer vermutet, hinter dem Mord an Kennedy oder hinter 9/11 könnte mehr stecken als ein paar ideologisierte Spinner, wer Anzeichen dafür sieht, dass hier ein Mix aus Wirtschaft, Militär und Geheimdiensten am Werk war, hat definitiv das komplexere Weltbild, als jemand, der an durch und durch ehrliche Regierungen/Geheimdienste auf der einen Seite und extremistische Spinner auf der anderen Seite glaubt.
Aber egal, ob das, was man (ab)schreibt, Hand und Fuss hat – Hauptsache, es tönt abgehoben. So wie bei Sarasin:
Diesbezüglich hat Sarasin recht: «Fragen» zur jüdischen Weltverschwörung oder zu Reptiloiden sind nicht zu widerlegen. Aber: Sollte sich ein Historiker tatsächlich um derartigen Stumpfsinn kümmern? Sollte sich ein Historiker nicht um reale Ereignisse und ihre Einordnung kümmern?
Sarasin macht lieber das, was der typische Anti-Verschwörungstheoretiker tut: Er wirft alle und alles in einen Topf. Er schafft es nicht, zwischen Kritik an offiziellen Darstellungen (JFK, 9/11, Mondlandung usw.) und Theorien zu Hirngespinsten (jüdische Weltverschwörung, Chemtrails, Reptiloiden, flache Erde usw.) zu unterscheiden.
«Schein-Evidenzen»: Das mag für vieles stimmen, für anderes ist es schlicht falsch. Ist z.B. die Erkenntnis, dass die offizielle 9/11-Darstellung in weiten Teilen auf Folteraussagen beruht, tatsächlich eine «Schein-Evidenz»? Ist die Tatsache, dass der offizielle 9/11-Report nie eine Peer-Review gesehen hat und kein rechtsstaatliches Verfahren überstehen würde, eine «Schein-Evidenz»?
«Keine umfassende Erklärung»: Muss ich, wenn ich eine offizielle Darstellung kritisiere, gleich eine Erklärung mitliefern, wie es denn wirklich war? Wohl kaum, denn das wäre dann tatsächliche eine Verschwörungstheorie.
Dumm und gefährlich
Je weiter man in Sarasins Text vorstösst, desto abstruser wird es:
Will Sarasin damit sagen, dass bei uns keine offene Debatte geführt werden kann? Versteht Sarasin unter «offener Debatte» eine Diskussion, deren Themenspektrum er selbst vorgibt? Meines Wissens darf in der Schweiz nach geltendem Recht zu allem eine offene Debatte geführt werden, solange die Inhalte nicht rassistisch oder anderweitig diskriminierend sind. Eine offene Debatte ist also nur dann eingeschränkt, wenn Leute wie Sarasin oder Wampfler Denkverbote aussprechen.
«Als Fragen getarnte Vermutungen»: Der Standardvorwurf, den alle Anti-Verschwörer den «Verschwörungstheoretikern» machen. Eine Unterstellung, mit der auch ich immer wieder konfrontiert werde. Tatsache ist: Ich habe meine Kritik an der offiziellen 9/11-Darstellung im Detail dargelegt. Viele andere haben ihre Kritik an 9/11 und anderen prüfenswerten Ereignissen im Detail dargelegt.
Statt sich dieser Kritik zu widmen und sie nötigenfalls zu widerlegen, bleibt Sarasin wie alle anderen Anti-Verschwörer auf der Meta-Ebene:
Spätestens hier ist Sarasins Text nicht mehr nur ärgerlich, sondern dumm und gefährlich: Er stellt Leute, die die CIA für eine «finstere Macht» halten, auf die gleiche Ebene wie rechte Spinner, die Flüchtlinge als gezielte Destabilisierung Europas sehen. Sarasin verharmlost damit die Verbrechen der CIA gegen Menschen und gegen das Völkerrecht. Als Historiker müsste Sarasin wissen, dass die CIA foltert, mordet, immer wieder an Staatsstreichen beteiligt war und ist. Hunderttausende Tote sind ihr direkt oder indirekt anzulasten (1, 2, 3, 4).
Was solls: Sarasin wiederholt sein pauschales Mantra («nur Fragen stellen») in unzähligen Formen. Über mehrere Abschnitte schreibt er immer wieder das Gleiche in anderen Worten:
Noch einmal das Gleiche in anderen Worten:
Nonsense im Quadrat: Kriege oder Terroranschläge passieren nie zufällig – egal, wer an ihrem Ursprung steht. Gleiches gilt für politische Prozesse, die das Gefälle innerhalb der Gesellschaft vergrössern – sie sind gewollt und werden von jenen Kreisen, die profitieren, vorangetrieben.
Und nein, es bringt mir keinen Trost, keine beruhigende Gewissheit, zu befürchten, dass 9/11 mehr als das Werk islamistischer Spinner sein könnte. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Vorstellung einer Welt, die sich in Gut und Böse teilen lässt bzw. in der wir die Guten sind, ist wesentlich beruhigender als der Gedanke, dass wir von demokratisch gewählten Regierungen betrogen werden könnten.
Mit Nonsense geht es weiter:
Ich begehre die Macht, weil ich 9/11 hinterfrage? Ich stehe auf der Seite autoritärer Herrscher, weil ich finde, dass ein 3000-facher Mord, der mehrere Kriege nach sich gezogen hat, sauber aufgeklärt gehört? Abstruser gehts nicht mehr.
Endlich kommen wir zum Ende des Texts:
Richtig: Es ist falsch, bestimmte Gruppen für alles Übel verantwortlich zu machen. Aber: Weshalb macht Sarasin genau das mit den «Verschwörungstheoretikern»? Weshalb wirft er alle in einen Topf, weshalb differenziert er nicht?
Richtig: Es wäre sinnvoll gewesen, die offiziellen Verlautbarungen von Nazi-Deutschland rechtzeitig zu hinterfragen. Es hätte möglicherweise Millionen von Menschenleben gerettet, wenn sich mehr Leute rechtzeitig gegen das Bild des für alle Übel verantwortlichen Juden gewehrt hätten. Aber: Weshalb hinterfragt Sarasin die Verlautbarungen der US-Regierung im Fall 9/11 nicht (mehr)? Es wäre auch in jüngster Zeit sinnvoll gewesen, sich gegen ein Land zu wehren, dass uns eine Religionsgemeinschaft als Feind verkauft. Vielleicht hätte damit der Pogrom an Moslems verhindert werden können. Ein Pogrom, der notabene nach wie vor im Gang ist und bereits weit über eine Million Tote gefordert hat.
Was also ist falsch an Philipp Sarasin? Er übt sich in Psychologie, statt seiner Aufgabe als Historiker nachzukommen. Letztere befassen sich normalerweise mit Geschichte, sie prüfen, ordnen ein und suchen dort nach Klarheit, wo Kritik begründet zu sein scheint. Das Psychologisieren überlassen sie den Psychologen.
Gerade, wenn es um heikle Themen und Verschwörungstheorien geht, ist Differenzierung das A und O – denn Kritik ist nicht gleich Kritik, Frage ist nicht gleich Frage. Demokratie und Wissenschaft leben davon, dass gezweifelt und hinterfragt wird, dass Menschen kritisch sind und ihre Bedenken äussern können, ohne die Folgen fürchten zu müssen. Wissenschaftler wie Sarasin oder Wampfler tragen mit ihren Rundumschlägen, mit ihrer pauschalen Hexenjagd dazu bei, dass in der Schweiz bestimmte Themen nicht mehr offen diskutiert werden können. Damit leisten sie den Werten der Aufklärung einen Bärendienst.